Frau Stapp-Osterod, wie ist Ihr Eindruck: Welche Einstellungen bezüglich Unternehmertum haben die Menschen in Ihrer Region?
Die Main-Metropole und das Land Hessen sind traditionell gründungsfreundlich und der Anteil der Selbstständigen unter den Erwerbstätigen hält sich derzeit relativ gut: 2021 machten sie 9,5 Prozent der Erwerbstätigen aus, im Vorjahr waren es noch 9,8 Prozent – also über dem Bundesdurchschnitt von 8,5 Prozent.
Durch die Pandemie spüren wir ein erhöhtes Interesse der Redaktionen für die Welt der Unternehmerinnen und Unternehmer. Unser Verein "jumpp – Ihr Sprungbrett in die Selbständigkeit, Frauenbetriebe e. V." konnte als Experte im Bereich des Female Entrepreneurship das Thema mehrfach in den Medien beleuchten und Best Practices Gründerinnen und Unternehmerinnen, die die Coronazeit erfolgreich überstanden haben, vermitteln. Diese Aufmerksamkeit spiegelt sicherlich auch die Besorgnisse der Bevölkerung.
Welche Maßnahmen sind sinnvoll, um Gründungseinstellungen von Personen positiv zu beeinflussen? Welchen Beitrag leistet Ihre Einrichtung dazu?
Bei jumpp leisten wir seit 1984 Pionierarbeit im Bereich der beruflichen Selbstständigkeit und Existenzsicherung für Frauen. Um Gründungseinstellungen von Personen positiv zu beeinflussen, gilt es aus unserer Sicht insbesondere, die weibliche Wirtschaftskraft zu fördern und die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen: Frauen aus der stillen Reserve zu holen, um ihr Gründungspotenzial auszuschöpfen. Das heißt u.a. Mädchen auf die Perspektive der beruflichen Selbstständigkeit früh zu sensibilisieren und Unternehmerinnen-Vorbilder zu schaffen und sichtbar zu machen.
Um dies zu erreichen, erfordert es eine auf die Belange von Frauen zugeschnittene persönliche und betriebswirtschaftliche Gründungsberatung. Daher schafft jumpp – sowie andere Initiativen – Abhilfe. Konkret begleiten wir bei jumpp Fempreneurs in allen Phasen ihrer Unternehmensentwicklung und bei Nachfolge: durch Coachings, Seminare, Workshops, Netzwerke Veranstaltungen, Lobbying und zielgruppenspezifische Projekte, z.B. für Frauen mit Migrations- und Fluchterfahrung, Wiedereinsteigerinnen, wachstumsorientierte Unternehmerinnen, Übernahmegründerinnen und -gründer sowie für Nachfolgesuchende. Den Frauen legen wir wirklich ans Herz, sich zu vernetzen, sich beraten zu lassen – und mutig voranzugehen, um die Wirtschaft mitzugestalten.
Das Land Hessen fördert Gründerinnen und Unternehmerinnen insbesondere mit der „Anlaufstelle für Unternehmensnachfolge“, „Migratinnen gründen – Perspektive Selbständigkeit“, „Digital-FEM-Lab Hessen“ und der „Koordinierungsstelle Frauen & Wirtschaft“. Alle sind bei jumpp angesiedelt.
Männer haben etwas positivere Gründungseinstellungen als Frauen. Wie erklären Sie sich das?
Bei jumpp sprechen wir eher von anderen Gründungseinstellungen, denn Frauen haben eigene Stärken sowie Prioritäten im Visier und gründen daher anders: nachhaltiger, leidenschaftlicher, offener für neue Arbeitsmodelle und eine ausgeglichene Work-Life-Balance. Heute sind es Frauen, die mitten im modernen Leben stehen und neue Arbeits- und Lebensmodelle schaffen – mit innovativen Geschäftsideen. Mitten im Leben stehen, heiβt: Jonglieren und zufrieden sein mit Job, Familie, sozialem Umfeld und Werte schaffen für Gesellschaft und Umwelt…
Sie sind zwar risikoscheuer als Männer und bauen im Durchschnitt kleinere Existenzen. Aber dafür sind diese weniger risikobehaftet und bestandsfähiger: Sie zeigen langen Atem. Und sie zeichnen sich durch hohe Zufriedenheit bei Kundschaft und Belegschaft aus!
Natürlich bestehen Hürden, die mit der Entwicklung neuer gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und frauenspezifischer Gründungsbegleitung behoben werden könnten. Denn Frauen haben Führungserfahrung, sind professionell und hoch ausgebildet, sie möchten Geld in die Hand nehmen, um zu wachsen! Beispielsweise bestehen Unterschiede beim Wachstumstempo: Während Gründer von Beginn an den „Rücken frei“ haben, wachsen Frauen schrittweise in die Selbständigkeit hinein, entsprechend ihrer Lebenssituation und der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Hauptsächlich haben rollenkonforme Sozialisation und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung noch einen großen Einfluss auf die Gründungsneigung von Frauen – dies belegen immer wieder u.a. die Arbeiten des Soziologen und Politikwissenschaftlers Dr. René Leicht aus dem Institut für Mittelstandsforschung der Universität Mannheim. Frauen entwickeln weit seltener unternehmerische Ambitionen als Männer, daher ist eine frühe Sensibilisierung von Mädchen wichtig.
Aber auch motivierte gründungswillige Frauen stoßen auf höhere Hürden bei der Umsetzung ihres Vorhabens: Sie haben einen weit schwierigeren Zugang zu unternehmerischem Wissen sowie zu sozialem und finanziellen Kapital. Zweierlei Maβstäbe gibt es typischerweise bei der Finanzierung: Für einen Kredit müssen sich Antragstellerinnen bei der Bank viel mehr rechtfertigen als Männer. Und laut Female Founders Monitor 2020 erhalten nur 1,6 Prozent der Frauenteams Venture Capital, dem gegenüber stehen 17 Prozent der Männerteams. Sie müssen daher häufiger auf andere Finanzierungsquellen, wie Familie und Freunde, zurückgreifen. Auch hier empfehlen wir Frauen, sich bei Antragstellung und beim Lotsen im Förderdschungel fachkundigen Rat zu holen.
Weitere genderspezifische Unterschiede führen dazu, dass Unternehmerinnen mit speziellen Hemmnissen konfrontiert sind. So fehlen beispielsweise in den frühen Phasen der Unternehmensentwicklung Netzwerke, die relevante Kontakte und Expertise liefern. Da schaffen Initiativen und Vereine wie jumpp Abhilfe.
Was muss zukünftig passieren, damit sich die Gründungseinstellungen in der Gesellschaft verbessern?
Gründungshemmnisse und Risiken beruflicher Selbständigkeit erfordern eine grundlegende Reform des Systems der sozialen Sicherung in welchem selbständige Erwerbsarbeit weitestgehend der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gleichgestellt wird. Zur sozialen Mindestsicherung von Selbständigen bietet sich ein Grundpaket mit adäquaten Sozialversicherungsleistungen an (Krankenkassen-, Pflege-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung sowie die Berücksichtigung von Mutterschutz und Krankentagegeld). Darüber hinaus müssen die Unterstützungsleistungen vor und nach der Geburt eines Kindes verbessert werden – also die Regularien für Frauen und Männer, die in der Elternzeit gründen. Den wirtschaftlichen und sozialen Unwägbarkeiten in den ersten Jahren nach der Gründung kann in bestimmten bzw. in nachweisbaren Fällen durch angemessene Steuererleichterungen begegnet werden, wodurch sich auch die Bestandsfestigkeit frauengeführter Unternehmen insgesamt erhöht.
Ein Abbau bürokratischer Hemmnisse im Prozess der Gründung, Genehmigung und Förderung neuer Unternehmen vergrößert die Transparenz für Gründungswillige und verringert Zeit, Kosten und Aufwand beim Schritt in die Selbständigkeit. Diesbezüglich sind neue Verfahren und Modelle zu erproben. Denkbar ist z.B. ein digitales Format in Form einer einheitlichen zentralen Stelle, die Krankenkassen-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung zusammenführt (Bsp. KSK). Weitere Hemmnisse beim Einstieg in die Selbständigkeit können zudem durch gestaffelte Beträge (Zumutbarkeiten berücksichtigen) verringert werden.
Aus Sicht der Gründungszene ist es von großer Bedeutung, die Öffentlichkeit auf den Unternehmerinnen- und Unternehmergeist zu sensibilisieren. Darin sind wir beispielsweise in der Rhein-Main-Region und Hessen langjährig erfolgreich involviert: Mit den weiteren Beteiligten schaffen wir neue Schnittstellen in den Mainstream über Medien- und Cluster-Partnerschaften aus Wirtschaft, Bildung und Sozialem, über große Veranstaltungen wie Fachtagungen und Kongresse. Die Einbindung von regionalen Mitgestaltern der Wirtschaft und des Entrepreneurship, z.B. im Rahmen von Projekten, ist unerlässlich, um die öffentliche Wahrnehmung des Potenzials von Unternehmertum sichtbar zu machen – und unternehmerischen Geist bei Frauen und Männern zu zünden.
Vielen Dank für Ihre Einblicke!
Bildnachweise: Hier klicken, um zur Übersicht zu gelangen