Selbstführung

Die Selbstführung ist das Kraftzentrum jeglichen Führungshandelns. Daher steht sie als Erfolgsbasis auch im Mittelpunkt des Führungsnavigators. Die Art und Weise, wie sich Führungskräfte selbst führen, strahlt auf die Wirkung aller anderen Führungsaufgaben, auf das gelingende Miteinander im Unternehmen und auf die persönliche Leistungsfähigkeit aus. In der Selbstführung wurzeln Effizienz und Effektivität, aber auch Zufriedenheit und Gesundheit. Sogar talentierte und bestens ausgebildete Führungskräfte sind in einem Arbeitsumfeld, das von Komplexität und Druck geprägt ist, ohne adäquate Selbstführung zum Scheitern verurteilt, beziehungsweise werden sie ihr Potenzial nicht entfalten können.

Arbeitsmethodik
Jede Führungskraft sollte die „handwerklichen“ Grundlagen der Selbstführung beziehungsweise des Selbstmanagements beherrschen. Dazu gehören der bewusste Umgang mit der verfügbaren Zeit, die tägliche Arbeitsorganisation, Strategien für den Umgang mit der Informationsflut und neuen Kommunikationstechnologien, die Fähigkeit zu priorisieren und zu delegieren sowie im Alltag zwischen dem Dringenden und dem Wichtigen zu unterscheiden und entsprechend zu handeln. Über eine derartige Arbeitsmethodik können Führungskräfte positiv auf Menge und Qualität ihres Arbeitsoutputs einwirken und sich wichtige Freiräume für anspruchsvolle (Führungs-)Aufgaben und Erholungsphasen schaffen. Dies bildet eine professionelle Grundlage, die alle Führungskräfte, in Abhängigkeit zu den Anforderungen ihres Jobs und ihrer Aufgaben, beherrschen sollten. Oder mit Fredmund Malik gesagt (2014): „Systematisches und methodisches Arbeiten ist der Schlüssel für die Nutzung von Talenten und für die Transformation von Fähigkeiten in Ergebnisse und Erfolg.“

Bewusstheit und „Wahlfreiheit“
Arbeitssystematiken und Methoden bilden zwar eine wichtige Basis von Wirksamkeit, jedoch reichen sie allein schon lange nicht mehr aus, um Talente und Fähigkeiten in Erfolg zu transformieren. Denn in der heutigen Arbeitswelt ist der Alltag vieler Führungskräfte davon geprägt, dass:

  • Druck und Dynamik des Geschäfts permanent zunehmen,
  • Interessen und Konflikte im Beziehungsgeflecht zwischen Kunden, Unternehmen, Abteilungen, Teams, den Mitarbeitern und der eigenen Familie immer wieder neu ausbalanciert werden müssen,
  • Entscheidungssituationen zunehmend als nicht entscheidbar erlebt werden,
  • ein praktischer Umgang mit Ungewissheit und Widersprüchlichkeit gefunden werden muss und 
  • Ergebnisse mit Menschen realisiert werden müssen, die sich unterschiedlich gut verstehen, eigene Interessen verfolgen und letztlich nicht steuerbar sind.

Diese Gemengelage kann dazu führen, dass Führungskräfte aus unterschiedlichen Gründen an Orientierung einbüßen, ausbrennen und letztlich an Wirksamkeit verlieren. Um sich in dem beschriebenen Umfeld selber führen zu können, benötigt die Führungskraft jedoch ein gewisses Maß an Bewusstheit und innerer Wahlfreiheit. Dieses ist deshalb so wichtig, weil wir alle hochgradig darauf konditioniert sind, auf bestimmte Weisen zu reagieren. Daher befinden wir uns oft in einer Art „Autopilot-Modus“, der die potenziell vorhandenen Handlungsmöglichkeiten einschränkt. Die Einschränkungen der eigenen Handlungsmöglichkeiten und deren Auflösung liegen jedoch meist außerhalb des bewusst Beeinflussbaren. Der Autopilot folgt inneren Fixierungen, die oft in den individuellen, biografischen Erfahrungen wurzeln und unweigerlich mit Gefühlen verbunden sind. Dies hat zwangsläufig eine gefilterte Wahrnehmung zur Folge. In schwierigen Situationen, unter Stress oder wenn persönliche Grenzen erreicht werden – beziehungsweise unter den oben beschriebenen Situationen – kann der individuelle Filter dann noch enger werden. Das führt dazu, dass das eigentlich zur Verfügung stehende Handlungsrepertoire einer Führungskraft entsprechend eingeengt und einseitig wird. Daher lässt sich der Führungsalltag auch nicht nur durch den Verstand und die korrekte Anwendung von Managementtools regeln, sondern durch Kenntnis der eigenen Persönlichkeit und dem bewussten Umgang mit seinen Gefühlen

Unter den vielen Möglichkeiten, die es dafür gibt, eignen sich zwei Ansatzpunkte besonders, um die eigene Selbstführung zu verbessern – sowohl für Einsteiger als auch für Fortgeschrittene.
 

Innere Freiheit und Wahlmöglichkeiten vergrößern
Die eine Führungskraft redet kaum und eine andere permanent mit ihren Mitarbeitern, vielleicht sogar so viel, dass kein anderer zu Wort kommt. Ein Teamleiter reagiert auf Kritik mit Rückzug und ein anderer mit Angriff und der dritte wiederum mit erwachsener Sachlichkeit. Es ist sicherlich auch eine Frage von Stil und Individualität, ob jemand in der Lage ist, Defizite bei einem Mitarbeiter oder auch einer Führungskraft anzusprechen, Sitzungen ergebnisorientiert zu leiten, auf erforderliche Konflikte einzugehen und sie nicht vermeidet und vieles mehr. Wenn die Wahrnehmung wichtiger Aufgaben jedoch dauerhaft als schwierig beziehungsweise als belastend erlebt wird (durch einen selbst und/oder durch das Umfeld), sich unangenehme Situationen ungewollt wiederholen oder Aufgaben gänzlich vermieden werden, kann dies ein Hinweis auf individuelle Einschränkungen und eine Chance zur Verbesserung der persönlichen Selbstführung sein.

Viele Menschen fühlen sich vor allem in Belastungssituationen als Mensch nicht vollwertig geschätzt oder liebenswert. In der Regel entwickeln wir individuelle Strategien, um diesem „Nicht-Okay-Gefühl“ entweder zu entrinnen („Um wieder okay zu sein, muss ich so … sein/muss ich Folgendes erfüllen …“) oder dieses erst gar nicht wahrnehmen zu müssen („Ich darf mich nicht … so fühlen“) (Schmid, 2001).

Das eigene Handeln und die Wahrnehmung der „Realität“ können dann der Erfüllung der verinnerlichten Anweisungen untergeordnet sein. Damit ist oft verbunden, dass ein Großteil der vorhandenen Energie dafür verwendet wird, die Überzeugungen („Ich muss stark, perfekt, angepasst, siegreich sein ...“) zu erfüllen oder unangenehme/unerlaubte Gefühle zu vermeiden („Ich darf mich nicht enttäuscht, ängstlich, schwach fühlen …“). Sicherlich wollen alle Menschen ihren Überzeugungen entsprechen und unangenehme Gefühle vermeiden, wenn dies jedoch innerlich als alternativlos erlebt wird, führt es zum einengenden Zwang. In solchen Situationen sind die Handlungsfreiheit und der Zugriff auf die vorhandenen Ressourcen stark eingeschränkt.

Innere Automatismen haben Macht über einen, solange man sich dazu entscheidet, bestimmte Gefühle nicht haben zu wollen (Eidenschink, o. J.). Wenn eine Führungskraft ihre Kernaufgabe, ein Leistungsdefizit oder ein Fehlverhalten anzusprechen, nicht wahrnimmt, weil beispielsweise dahinter die Angst vor Zurückweisung oder einer belasteten Beziehung liegt oder sie vielleicht dem inneren Gebot „Sei anderen gefällig!“ folgt, führt dies zu Verhaltensfixierungen, mangelnder Flexibilität und im Führungsalltag zwangsläufig zu Schwierigkeiten. Denn die Wahlmöglichkeiten, flexibel und situationsangepasst reagieren zu können, sind dann eingeschränkt. Wenn die Führungskraft hingegen lernt, die dahinterliegenden Gefühle wahrzunehmen und anzuerkennen, statt sie zu vermeiden, nimmt sie ihnen die Macht, das eigene Verhalten einschränken zu müssen. Der Managementcoach Klaus Eidenschink bringt es folgendermaßen auf den Punkt (ebd.): „Wer sich umstellt, vom Prinzip unangenehme Gefühle zu vermeiden, zum Prinzip im Umgang mit unangenehmen Gefühlen gut und kompetent zu werden, der gewinnt seine eigene Freiheit zurück.“

Freiheit bedeutet, keinem Zwang (mehr) folgen zu müssen. Das heißt, im Führungsalltag die innere Erlaubnis – also die Wahlfreiheit – zu haben, Mitarbeiter kritisieren zu können und sie nicht zu kritisieren; „Ja“ und „Nein“ sagen zu können; 150 Prozent und auch mal nur 50 Prozent leisten zu dürfen; klare Ansagen zu machen und sich auch mal was sagen zu lassen; auf Kundenwünsche einzugehen und sie auch ablehnen zu können; einen Plan zu haben und ab und zu auch planlos sein zu dürfen und so weiter. Eine Führungskraft, die nur kritisiert, nur „Ja“ sagen kann, nur 150 Prozent gibt, sich nicht auch mal was sagen lässt, auf jeden Kundenwunsch eingehen muss oder sich in einer komplexen Welt nie planlos fühlen darf, wird aufgrund ihrer eingeschränkten Wahlmöglichkeiten nicht nur hinter ihrem Potenzial bleiben, sondern auch die Stimmung im Team und vor allem die Ergebnisse gefährden. Überall da, wo das Verhalten (zwanghaft) in eine Richtung fixiert ist, kann es sich lohnen, genauer hinzuschauen, um mögliche Einschränkungen zu erkennen, sie anzunehmen und ihnen dadurch die „Macht“ zu nehmen.

Die Umsetzung ist in der Praxis nicht einfach, da die Situationen oft als alternativlos erlebt werden und vieles unterhalb des Radars des Bewusstseins beziehungsweise der bewussten Einflussnahme abläuft. Hilfreich sind Angebote und „Räume“, die es ermöglichen, auf Basis von Selbstreflexion sich selbst besser kennenzulernen und neue Erfahrungen zu machen. Bewährt haben sich dafür Coaching, Supervision, Therapie oder auch offene Formate wie kollegiale Beratung, Führungskräfteentwicklungsprogramme, Selbsterfahrungsangebote oder die Teilnahme an geeigneten externen Weiterbildungsangeboten.

Kontaktfähigkeit und Präsenz im Führungsalltag
Führungskräfte verbringen einen großen Teil ihrer Zeit im Austausch mit Mitarbeitern, anderen Führungskräften, Vorgesetzten, Kunden und Stakeholdern. Der Verlauf und der Erfolg dieser zwischenmenschlichen Kontakte werden durch das eigene Auftreten und Wirken ebenso beeinflusst wie durch das Auftreten und Wirken des jeweiligen Gegenübers.

Im Alltag wird die Kontaktqualität durch eine Vielzahl offensichtlicher und subtiler gegenseitiger „Einladungen“ bestimmt, die sich Menschen (oft auch unbewusst) gegenseitig geben. Wir stellen in der Art und Weise, wie wir emotional und gedanklich präsent sind, indem was wir tun oder auch nicht tun sozusagen immer eine „Einladung“ für unser Gegenüber dar. Das heißt, wie jemand auftritt, was jemand sagt, in welchem Zustand sich jemand befindet wirkt auf das Gegenüber ein und beeinflusst den Kontakt. Einladungen sind komplexe Vorgänge, die ständig ablaufen. Einladungen zu geben und diese anzunehmen, sind ein wichtiger Bestandteil zwischenmenschlicher Begegnung, weil sich Menschen so aufeinander einstellen und Kontakt herstellen können.

Oft sind solche Einladungen jedoch der Versuch, Situationen auf eine bestimmte Richtung hin zu beeinflussen, zu strukturieren und das Gegenüber zu entsprechender Resonanz zu bewegen (Weser, o. J.). Zum Beispiel:

  • Der Versuch zu einer Sichtweise einzuladen („Also mein Problem ist der Kollege …, der hat sich nämlich Folgendes geleistet …“)
  • Der Versuch Verantwortung abzugeben („Ach, mir geht es heute gar nicht gut, ich hoffe, dass Sie etwas für mich tun können ...“)
  • Die Einladung in einen Gefühlszustand miteinzutreten („Es ist doch einfach empörend, wenn die glaubt, so mit mir umspringen zu können, indem sie …“)

Einladungen verlaufen aber auch nonverbal über Haltungen, Gefühle und Gefühlszustände. Ob jemand aufgeregt mit einem Vorwurf auf einen anderen zugeht, freudig erregt kommt, verhalten oder misstrauisch, eindringlich oder zurückhaltend ist: Immer wirkt die Begegnung auf den anderen ein, der wiederum in seiner eigenen Weise in den Kontakt eintritt.

Da viele Einladungen der Sicherung und der Kontrolle einer Situation gelten und sie vorwiegend unbewusst ablaufen, haben sie jedoch meist eine eingrenzende, verfestigende oder verschließende Wirkung (ebd.). Ihre besondere Bedeutung bekommen diese Einladungen aber erst durch ihre „Sogwirkung“. Diese wirkt meist außerhalb der bewussten Kontrolle. Das Gegenüber hat oft die Tendenz, dieser zu folgen. Das kann vielleicht ausgelöst werden durch den falschen Ton in einer Kritik, ein verlockendes Angebot für eine ruhmreiche Aufgabe, das abwertende Auftreten eines Kollegen, eine Ablehnung oder ein überschwängliches Lob. Die Sogwirkung bezieht sich nicht nur auf das Annehmen, sondern auch auf den Gefühlszustand, der jeweils damit verbunden ist. Wenn in einer Teamsitzung beispielsweise jemand gleichgültig, trotzig oder überheblich auftritt, kann diese Einladung den Teamleiter regelrecht in einen anderen (oft ungewollten) Zustand hineinkatapultieren. Meist ist in diesem Zustand auch das Handlungsrepertoire eingeschränkt. In Bezug auf eine gelungene Selbstführung stellt sich dann die Frage, wie sowohl Einladungen seitens anderer als auch die eigenen an die anderen den Kontakt, den Verlauf der Situation und gegebenenfalls die Zusammenarbeit (negativ) beeinflussen?

Für Führungskräfte bedeutet dies, achtsam und gewahr zu sein, mit welchen Einladungen mitgegangen werden soll und mit welchen (unbewussten) Einladungen sie selbst auf andere zugehen. Dazu kann es beispielsweise gehören, Einladungen wahrzunehmen, die subtil darauf abzielen, Verantwortung abzugeben oder Sichtweisen Einzelner (Mitarbeiter, Kunden usw.) zu übernehmen, die höherwertige Lösungen ausschließen. Wenn eine Führungskraft zum Beispiel einem klagenden Mitarbeiter folgt „Ja, das ist von Herrn … wirklich unmöglich!“ wird die Führungskraft zum Teil des Problems. Der Möglichkeitsraum für neue Sichtweisen und Impulse wird verschlossen.

Für Führungskräfte kann es jedoch bezüglich ihrer Wirksamkeit ertragreicher sein, auf die eigenen Einladungen zu schauen. Wie wirken sich beispielsweise unausgesprochene und vielleicht unbewusste Gefühle (als gut gelten zu wollen, Erfolg haben zu müssen, dem anderen unbedingt helfen zu wollen, anerkannt und geliebt zu werden oder unbedingt zum Verkaufsabschluss kommen zu müssen) auf die Situation, die Kontaktqualität und den Erfolg der eigenen Absicht aus? Neben einem subtilen Unbehagen verfestigt sich dann etwas in den Beteiligten und in der Beziehung. Der Möglichkeitsraum zwischen den Beteiligten wird verengt und das Finden von Lösungen sowie ein guter Kontakt sind so nicht mehr möglich beziehungsweise eingeschränkt (ebd.).

Führungskräfte können die Wahrnehmung für solche Vorgänge und Einladungen bewusst trainieren. Ein zentraler Schlüssel dafür liegt in der Entwicklung von Achtsamkeit für diese Prozesse und den beteiligten Gefühlen. Die Wahrnehmung dieser feinen und subtilen Zwischentöne hilft zu verstehen, was im Hintergrund einer Begegnung oder Zusammenarbeit thematisch „mitläuft“ beziehungsweise die berufliche Situation strukturiert und bestimmt. Auf dieser Basis können sich Führungskräfte in den alltäglichen Arbeitszusammenhängen immer wieder gewahr werden, mit welchen Einladungen sie eine Situation vielleicht selbst (im Guten wie im Schlechten) vorstrukturieren und sich zunehmend bewusst entscheiden, welche Einladungen des Gegenübers sie annehmen und welche sie ablehnen – schließlich wirkt all dies auf die Qualität des Kontakts und damit auch auf den Erfolg.