Rollen und Verantwortung klären

Ebenso schnell wie sich die Geschäftswelt verändert, können sich auch die Anforderungen und Rahmenbedingungen für die Mitarbeiter eines Unternehmens ändern: Neue Technologien, neue Projekte, neue Produktionsverfahren, neue Standards und Gesetze, neue Kunden und so weiter. Sie führen zu neuen Aufgaben und Abläufen, wechselnden Zuständigkeiten sowie sich ändernden Beziehungen und Verantwortlichkeiten. In diesem Umfeld lösen sich die gewohnten Ordnungen und Orientierungen für Mitarbeiter und Führungskräfte regelmäßig auf, wovon auch die Rollen und Zuständigkeiten der Mitarbeiter betroffen sind. Passen diese nicht mehr zusammen, können Anforderungen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten unterschiedlich interpretiert und „verortet“ werden, was zu Fehl- und Minderleistungen führen kann. Daher reichen für ein professionelles Zusammenspiel der Mitarbeiter Organigramme, Stellenbeschreibungen, Prozessbeschreibungen oder schnell formulierte Ad-hoc-Aufträge allein nicht mehr aus. Entweder weil sie zu starr und unflexibel sind oder weil sie die wesentlichen Voraussetzungen für gute Leistungen außer Acht lassen.

Führungskräfte können hier einen wichtigen Grundstein für Verbindlichkeit und Spitzenleistungen legen, indem sie im schnelllebigen Geschäft Klarheit in Bezug auf die Rollen und der daraus resultierenden Verantwortung schaffen.

Oft werden jedoch klare Rollen und die damit verbundene Verantwortung im Unternehmen ganz einfach vorausgesetzt oder in ihrer Bedeutung falsch eingeschätzt. Daher werden sie auch nur selten bewusst auf ihre aktuelle Stimmigkeit geprüft, was auf individueller Ebene zu Belastung und/oder Minderleistung sowie im Unternehmen zu Verantwortungsverschiebungen, mangelnder Verbindlichkeit und schließlich zu Unwirksamkeit führen kann. Erste Anzeichen sind gegeben, wenn Mitarbeiter wichtige Aufgaben liegen lassen beziehungsweise die gestellten Erwartungen nicht erfüllen und/oder wenn andere Mitarbeiter einspringen (müssen). Folgende Beispiele verdeutlichen das Gesagte:

  • Eine Geschäftsführerin teilt ihren Abteilungsleitern mit, dass sie eine zusätzliche Aufgabe wahrnehmen sollen. Jedoch nehmen die Abteilungsleiter diese nicht vollständig wahr. Die Geschäftsführerin ist unzufrieden und zweifelt an ihren Führungskräften.
  • Die Geschäftsführung verlangt vom gesamten Führungsteam „mehr Führungsleistung“. Als diese ausbleibt, werden die Motivation und die Kompetenz der Führungskräfte kritisiert.
  • Ein Vorgesetzter teilt seinen Teamleitern das neue Aufgabenspektrum nach einer Reorganisation mit, diese arbeiten aber mehr nach der alten als nach der neuen Stellenanforderung. Die Folge sind erhebliche Qualitätsprobleme.
  •  Eine Geschäftsführerin übernimmt regelmäßig Aufgaben eines Abteilungsleiters und dieser übernimmt wiederum Aufgaben seiner Teamleiter. Das führt dazu, dass sowohl wichtige Geschäftsführungs- als auch Abteilungsleitungsaufgaben liegen bleiben.

In allen Beispielen lag kein absichtliches Fehlverhalten vor. Die dahinterliegenden Gründe sind auf den ersten Blick gar nicht so leicht zu erkennen, weil Unstimmigkeiten bezüglich der Verantwortung ebenfalls nicht immer offensichtlich sind. Mit einem bewährten Modell aus der Organisationsentwicklung lassen sich jedoch „Verantwortungslecks“ schnell identifizieren und passende Lösungen ableiten.

Klärung mit dem Verantwortungssystem
Im Kern des Verantwortungssystems (Schmid/Messmer, 2004) steht die Verantwortung eines Rollenoder Funktionsträgers in vier Dimensionen. VerAntwortung bedeutet hier, dass Mitarbeiter aus ihrer eingenommenen Rolle und den damit verbundenen Erwartungen heraus Antwort geben. Damit die Erwartungen erfüllt werden und Mitarbeiter die Verantwortung übernehmen, müssen die vier Dimensionen des Modells zumindest im Ansatz greifen.

  • Antworten zu wollen: Das ist eine Frage des Commitments zur Organisation, der Werteorientierung und der Motivation des Mitarbeiters. Hier kann gefragt werden: Will jemand die mit der Rolle/Funktion verbundene Aufgabe wahrnehmen?
  • Antworten zu können: Hat der Mitarbeiter die für die Wahrnehmung der Aufgabe erforderlichen Kompetenzen und Qualifikationen?
  • Antworten zu dürfen: Ist der Mitarbeiter mit den erforderlichen Ressourcen, Macht- und Gestaltungsmitteln ausgestattet?
  • Antworten zu müssen: Hier geht es um die Zuständigkeit. Das heißt, ist es dem Mitarbeiter klar, zu welchen Aufgaben und Fragestellungen er Antwort geben muss? Und was passiert, wenn die Zuständigkeit nicht wahrgenommen wurde?

Das Modell verdeutlicht zudem, dass Verantwortung nicht nur durch Mitarbeiter gelebt beziehungsweise im Problemfall nicht allein gelöst werden kann. Verantwortung entsteht aus dem Wechselspiel zwischen Person und Organisation. Steht das „Wollen“ oder das „Können“ im Mittelpunkt, muss mit dem/den Mitarbeiter(n) gearbeitet werden. Beispielsweise über Weiterbildung oder über Gespräche/Workshops, die das „Wollen“ zum Gegenstand haben. Die Rahmenbedingungen für das „Dürfen“ und „Müssen“ hingegen liegen bei der Organisation beziehungsweise dem Unternehmen. Verantwortung wird so nicht nur bezogen auf die einzelnen Personen und ihre Funktionen gesehen, sondern als komplementäres, aufeinander bezogenes Gesamtsystem verstanden und gestaltet (ebd.). Was bedeutet dies für die Praxis? Zur Veranschaulichung werden die obigen vier Beispiele „durch das“ Verantwortungssystem betrachtet:

Bei dem ersten Beispiel wurde nach der Anwendung dieses Modells deutlich, dass die Abteilungsleiter grundsätzlich die neue Aufgabe wahrnehmen „wollen“. Auch im Bereich „Können“ war mehr oder weniger alles Erforderliche gegeben. Auf Organisationsseite wurde jedoch nicht für ausreichende Klarheit beim „Dürfen“ und „Müssen“ gesorgt. Die Lösung: Zur Anweisung zwischen „Tür und Angel“ („Übernehmt die neue Aufgabe!“) wurde noch die Abgrenzung zu den Aufgaben anderer Führungskräfte erstellt und die Zuständigkeit für die neue Aufgabe im Stellenprofil der Abteilungsleiter aufgenommen.

Beim zweiten Beispiel konnte herausgearbeitet werden, dass die Geschäftsführung zur Änderung der aktuellen Situation zuerst ein Rollenmodell für ihre Führungskräfte entwickeln musste, welches das „Müssen“ und das „Dürfen“ klar beschreibt. Auf dieser Grundlage konnte auch der Rahmen für das „Können“ erarbeitet werden.

Im Beispiel drei wurde deutlich, dass das „Müssen“ durch das Stellenprofil zwar vorlag, jedoch in den Bereichen „Dürfen“, „Wollen“ und auch „Können“ nachgearbeitet werden musste.

In aller Kürze wurde beim vierten Beispiel erkennbar, dass weder die Geschäftsnoch die Abteilungsleitung ihrer untergeordneten Führungskraft das „Müssen“ konsequent abverlangt hat, da diese wegen fehlendem „Können“ nicht in der Lage war, ihre Aufgaben voll zu erledigen. Die Lösung lag hier im gezielten Aufbau des Abteilungsleiters und in der gesteigerten Konsequenz, bei Beiden im eigenen „Müssen“ zu bleiben beziehungsweise dieses im Alltag auch einzufordern.