Beziehungen gestalten

Hängt Führungsstärke von der Kompetenz, dem Charisma oder von den eingesetzten Tools einer Führungskraft ab? Wenn zum Beispiel eine unerfahrene Führungskraft ein gut eingespieltes Team leitet, kann sie von der Kompetenz des Teams getragen werden und im eigenen Erleben sowie in der Außenwahrnehmung einen guten Job machen beziehungsweise als führungsstark gelten. Ist sie dann wirklich führungsstark? Oder ist eine erfahrene Projektleiterin wirklich führungsschwach, wenn sie mit ihrem neuen Team scheitert?

Systemisch geprägte Führungsansätze gehen davon aus, dass Führungsstärke keine immanente Eigenschaft einer Führungskraft ist, die sich quasi von Team zu Team oder von Unternehmen zu Unternehmen mitnehmen lässt. Führungsstärke ist somit – und damit verbunden auch der wirtschaftliche Erfolg – immer das Ergebnis einer gelungenen Gemeinschaftsleistung, was im Alltag oft vergessen wird.

Bildlich gesprochen ist ein tolles Konzert nicht die Leistung des Chorleiters, sondern das Resultat eines fähigen Chors und eines fähigen Leiters. Ebenso müsste eine Medaille beim Springreiten auch an das Pferd verliehen werden, weil derselbe Reiter auf einem Mittelklassepferd sicherlich keinen Sieg errungen hätte. Gleiches gilt im Arbeitsleben. Ein Projektleiter kann sich nicht nur auf seine Managementkenntnisse und seine Erfahrung verlassen, weil er letztlich immer auf ein kompetentes und williges Team angewiesen ist. Die Krux dabei ist, dass Kompetenz auf beiden Seiten – also der Führenden und der Geführten – zwar eine Voraussetzung für gute Leistungen ist, jedoch alleine nicht ausreicht.

Beim genaueren Hinschauen wird deutlich, dass gute Ergebnisse maßgeblich von der Einheit von Führen und Sich-führen-Lassen abhängen. Jemand, der führt, braucht immer jemanden, der sich auch führen lässt. Die Bereitschaft in diesem Wechselspiel mitzumachen und sein Bestes zu geben, wird durch die Beziehungsqualität zwischen den Beteiligten bestimmt. Besonders unter komplexen Arbeitsbedingungen sind tragfähige Beziehungen zentral. Tragfähige Beziehungen steigern die Chance, dass Entscheidungen (auch unliebsame oder kritisierbare) nachhaltig mitgetragen werden; dass Mitarbeiter wichtige Impulse, Informationen und Kritik an die Führungskraft tragen (und nicht für sich behalten); die Teammitglieder für dringendes Zusatzgeschäft freiwillig die Hand heben (anstatt auf Tauchstation zu gehen) oder im Alltag auftauchende Chancen aufgreifen und nicht wegschauen (auch wenn dies vielleicht nicht zu deren Aufgaben gehört). Führung kann daher erst voll wirksam werden, wenn die Geführten und die Führungskräfte wechselseitig auf sich Einfluss nehmen lassen und ihr Bestes nicht zurückhalten, sondern es freiwillig einbringen. Sicherlich gibt es auch Beispiele dafür, dass die Ergebnisse über Druck und Angst erreicht werden. Allerdings werden in dem Fall die Geführten die vorhandenen Potenziale, die Reserven, die Kreativität und das Quäntchen „Extra“, worauf viele Unternehmen angewiesen sind, eher vorenthalten als freiwillig einbringen. Zudem fördern Druck und Angst psychische Fehlbelastungen. Schließlich gelten schlechte Führungsbeziehungen als Hauptgrund für äußere und innere Kündigungen. Die Aufmerksamkeit und das Engagement für gute Führungsbeziehungen bilden daher ein wesentliches Element erfolgreicher Führung. Die Herausforderungen bei einer guten Gestaltung der Beziehungen liegen darin, dass Beziehungen wesentlich von Emotionen, eigenen Vorstellungen/Bildern, Bedürfnissen und deren Befriedigung geprägt sind und viele dieses Terrain im Arbeitsleben vermeiden. Hinzu kommt, dass eine Führungskraft die Beziehung zu ihren Mitarbeiten letzten Endes auch nie allein gestalten kann – daher braucht es Offenheit und Gestaltungswillen auf beiden Seiten.

Ansatzpunkte

Führungsdialog
Beziehungsgestaltung findet im täglichen Kontakt statt. Wenn diese verbessert oder gepflegt werden soll, geht es in erster Linie darum, ein gegenseitiges Verständnis dafür zu entwickeln, was beide Seiten für eine gelungene Führungsbeziehung brauchen. Dies muss über persönliches Harmonieren hinausgehen, da sich in diesem Dialog definierte Rollen begegnen und die Beziehung sich in erster Linie daran ausrichten soll. Üblicherweise teilen sich die Rollen in Führender und Geführter auf. Insofern sind zwei grundlegende Fragen ein guter Einstieg für einen Dialog zwischen Mitarbeiter und Führungskraft:

  • Was brauche ich von dir, um mich gut führen zu lassen?

Und umgekehrt:

  • Was brauche ich von dir, um dich gut führen zu können?

Hierfür wäre es hilfreich, wenn jeder über sich und seine Vorstellungen von Führungsbeziehungen plausible Auskünfte geben könnte. Beispiel: Wie bin ich gestrickt? Was ist mir wichtig? Wo habe ich Spielräume? Womit komme ich überhaupt nicht zurecht? Beide Seiten sollten sich über die wesentlichen Punkte der persönlichen Zusammenarbeit verständigen, damit sie dauerhaft miteinander auskommen und aneinander Freude haben. Auf dieser Basis können die Führungsbeziehungen individuell und nach Bedarf gestaltet werden. Statt einem „richtigen“ Führungsstil zu folgen und diesen zu schulen, wird über die Offenlegung des Bedarfs die Basis für eine starke und belastbare Führungsbeziehung hergestellt.

Umgang mit Bedürfnissen in Führungsbeziehungen
Der Mensch erfährt und reguliert als soziales Wesen wichtige Grundbedürfnisse über Beziehungen. Auch wenn der Verstand zwischen der Berufsund der Privatwelt zu unterscheiden vermag, unsere Gefühle und Bedürfnisse bleiben morgens nicht vor dem Werkstor oder der Bürotür liegen. Vielmehr sind diese Bedürfnisse und deren Befriedigung(-sversuche) im Berufsalltag – meist als Sachthema gekleidet sowie mal mehr und mal weniger bewusst – präsent und beziehungsprägend. Gute und tragfähige Führungsbeziehungen berücksichtigen dies und geben im Rahmen der Möglichkeiten Raum zu deren Entfaltung. Die Literatur über Grundbedürfnisse ist sehr umfangreich. Diese Vielfalt lässt sich im Wesentlichen auf drei Grundbedürfnisse reduzieren, die jeweils in sich gegensätzlich strukturiert sind (Eidenschink, 2003):

  • Das Bedürfnis nach Bindung mit der Regulation der gegensätzlichen Pole „Nähe“ und „Distanz“
  • Das Bedürfnis nach Anerkennung des eigenen Selbstwertes mit der Regulation der Pole „Einzigartigkeit“ und „Zugehörigkeit“
  • Das Bedürfnis nach Selbstbestimmung mit der Regulation der Pole „Freiheit“ und „Sicherheit“

Beide Pole der jeweiligen Bedürfnisse sind gültig und stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Für ein gutes Bindungsgefühl ist sowohl das Ausleben von Nähe als auch von Distanz erforderlich. Die Verstärkung eines Pols kann sich immer nur auf Kosten seines „Gegenspielers“ vollziehen. Der Schlüssel liegt also in der Balance. Insofern ist es Aufgabe der Führungskraft, in ihrem Verhalten jeweils beide Pole der drei Grundbedürfnisse auszubalancieren. Sie muss darauf achten, ob in der Beziehung vielleicht zu starke Einseitigkeiten gelebt werden, die den Gegenpol auf Dauer benachteiligen und zu Frustration führen können. Wenn also in einer Führungsbeziehung jeweils einer der beiden Pole dominiert, wird der andere zurückgedrängt und die Befriedigung des Grundbedürfnisses in der Führungsbeziehung gehemmt. Mögliche Folge davon: Mitarbeiter sind weniger motiviert, ihre Wahrnehmungen, Kompetenzen und Leistungen einzubringen. Folgende Szenarien sind möglich:

  • Eine Führungskraft „bedient“ einseitig das Mitarbeiterbedürfnis nach Nähe und vernachlässigt oder frustriert damit das Distanzbedürfnis – oder umgekehrt.
  • Eine Führungskraft konzentriert sich vorrangig darauf, die Einzigartigkeit jedes Mitarbeiters anzuerkennen und frustriert damit das Bedürfnis nach Zugehörigkeit – oder umgekehrt.
  • Eine Führungskraft antwortet allein auf das Sicherheitsbedürfnis und vernachlässigt so das Bedürfnis nach Freiheit – oder umgekehrt.

Führungskräfte, die ihre Führungsbeziehungen diesbezüglich bereichern wollen, können daher zum einen danach schauen, wo möglicherweise ihre eigenen Präferenzen liegen (z. B. hohes Sicherheitsbedürfnis), um daraus Rückschlüsse zu ziehen und neue Qualitäten in der Führungsbeziehung entstehen zu lassen (z. B. dem Mitarbeiter trotz eigenem Sicherheitsbedürfnis mehr Freiheit gewähren). Zum anderen können die Präferenzen der Mitarbeiter auch zur Orientierung bei der Gestaltung der individuellen Führungsbeziehungen hilfreich sein (z. B. Herr Mayer hat eine hohe Präferenz nach Freiheit, wie kann ich ihm diese im Rahmen des Möglichen gewähren).

Selbstführung und Beziehungsqualität
Die Möglichkeit, dass sich tragfähige Führungsbeziehungen entwickeln können, hängt auch von der Kontaktfähigkeit und Präsenz ab (siehe Trainermaterialien: Erfolgsbasis Selbstführung). Über Achtsamkeit und Gewahrsein können die leisen „Zwischentöne“ in den Führungsbeziehungen wahrgenommen und berücksichtigt werden.