Zielkaskade

Das Führen mit Zielen wurde von Peter Drucker 1954 detailliert für den Einsatz in Unternehmen beschrieben und ist heute wohl eines der am weitesten verbreiteten Führungsinstrumente in Westeuropa und den USA. Gleichzeitig häuft sich die Kritik an der Arbeit mit Zielen: Beispielsweise sind viele Zielsysteme zu starr für schnell wechselnde Kundenanforderungen. Oft schaffen sie auch Anreize für Mitarbeiter, den Zielen stur hinterherzulaufen und dabei alles andere aus dem Blick zu verlieren. Die viel zitierten Motivationsschübe sind oft auch eher die Ausnahme, beziehungsweise können sie sich durch „schlechte“ Ziele sogar ins Gegenteil verkehren.

Dennoch bleiben Ziele und ihre Kaskadierung in die Organisation hinein – sofern richtig umgesetzt – weiterhin ein wichtiges Steuerungsund Führungsinstrument für Unternehmen. Letztlich geht es darum, die gesamten Leistungen einer Organisation zu koordinieren und in eine gewünschte Richtung zu bringen. Diese Orientierungsleistung der Ziele ist nicht ersetzbar. Es sei denn, man vertraut darauf, dass alle Abteilungen und Mitarbeiter von selbst das Richtige tun. Dies ist jedoch schon deswegen unwahrscheinlich, weil Mitarbeiter ab einer bestimmten Unternehmensgröße eine bereichsspezifische Sicht entwickeln und ihnen das Verständnis für die tatsächlichen Bedarfe des gesamten Unternehmens damit meist fehlt. In diesem Sinne dient eine Zielkaskade dazu, wichtige Weichenentscheidungen und neue Stoßrichtungen beziehungsweise die Strategie in alle betroffenen Unternehmensbereiche zu tragen, und sie in die Umsetzung zu bringen.

Das Prinzip beruht darauf, aus den Zielen der höheren Stufen die Ziele der unteren Stufen der Hierarchie abzuleiten. Dieses Grundprinzip findet sich auch in den Varianten Funktionalstrategie und den agilen Objektives and Key Results (OKR) wieder (siehe dazu die entsprechenden Trainermaterialien).

In einem klassisch hierarchisch-strukturierten Unternehmen haben Ziele, die dessen generelle Ausrichtung und Entwicklung betreffen, ihren Ausgangspunkt bei der Unternehmensleitung. Um wirksam zu werden, müssen sie ihren Weg über die verschiedenen Stufen der Unternehmenshierarchie zu den verantwortlichen Organisationseinheiten also zu den Funktionsbereichen, Abteilungen, Teams und letztlich zu den einzelnen Mitarbeitern nehmen. Nur so kann jeder den erforderlichen Beitrag für die Umsetzung der Unternehmensziele leisten. Die Zielkaskade ist jedoch keine Einbahnstraße, denn die Ziele fließen als Ergebnisse zurück und beeinflussen weitere Planungen, Ziele oder Zielkorrekturen.

Voraussetzungen
Wo Licht ist, ist auch Schatten – dies gilt auch für die Arbeit mit Zielkaskaden. Daher ist es wichtig, einen Blick auf die „Nebenwirkungen“ zu werfen, um diese bestmöglich bei der Anwendung vermeiden zu können. Beispielsweise lassen sich auch mit der besten Planung Zielkonflikte nicht vollständig vermeiden. Ein Ziel blockiert ein anderes oder hebt es sogar in seiner Wirkung ganz auf. Ziele stützen einander nicht, laufen zusammenhanglos nebeneinander her. Oder es entstehen Blockaden durch konkurrierende Interessen von Bereichsleitern. Zum Beispiel kann das Ziel der Materialkostenreduzierung Qualitätsprobleme erzeugen. Oder der Aufbau neuer Lieferanten kann die Materialversorgung der Produktion gefährden und so weiter. Bei den Planungen sollte daher weitgehend Zielkongruenz angestrebt werden. Das heißt, Stimmigkeit der Bereichsziele im Hinblick auf die strategischen Unternehmensziele sowie auch untereinander sicherzustellen.

Ein weiteres Risiko besteht in der Formulierung der Ziele. Beispielsweise wenn sie das Handeln der Mitarbeiter im Sinne des Ganzen behindern und zum Festhalten (oft zementiert durch Prämien) trotz ändernder Umweltbedingungen animieren. Wenn eine Bankberaterin das Verkaufsziel von zehn Lebensversicherungen im Monat hat, ist die Tendenz groß, dass jeder Kunde eine Lebensversicherung verkauft bekommt – unabhängig davon, ob er eine braucht oder vielleicht ein anderes Produkt passender wäre. Und wenn das Ziel bereits zur Monatsmitte erreicht ist, sinken Einsatz und Motivation bis zum nächsten Monat.

Für beide „Nebenwirkungen“ ergibt sich, dass Austausch und regelmäßige Kommunikation erforderlich sind. Im Planungsprozess, um Zielkonflikte rechtzeitig zu erkennen, und während der Umsetzung, um sie flexibel an veränderte Umweltbedingungen anzupassen. Ihr volles Potenzial kann die Zielkaskade dann entfalten, wenn sie nicht nur als Steuerungsinstrument, sondern auch als Instrument zur Fokussierung von Kommunikation gesehen wird. Das heißt, die Umsetzung der Ziele ist kein Selbstzweck, die einmal beschlossen, blind abgearbeitet und am Jahresende kontrolliert wird. Die Verantwortlichen müssen sich daher sowohl bei der Erstellung als auch bei der Umsetzung bereichsübergreifend über den aktuellen Sinn und Nutzen der Ziele austauschen können, um diese bei Bedarf auch anpassen zu können.

Prozess
Für die Erstellung einer Zielkaskade gibt es keinen einheitlichen Prozess. Dies kann durch den Inhaber, gemeinsam mit einem Beraterteam, im Führungskreis oder mit größeren Beteiligungsprozessen geschehen. Es hat sich jedoch bewährt, die Ziele gemeinsam mit den Verantwortlichen der jeweils betroffenen Hierarchieebenen zu erarbeiten. Das ist sinnvoll, weil sie die spätere Umsetzungsverantwortung tragen und weil sie im Planungsprozess rechtzeitig auf potenzielle Zielkonflikte und Risiken hinweisen können. Zur Implementierung bieten sich zwei Phasen an.

1. Kaskadierung der Ziele:
Bedingung und Ausgangspunkt einer Zielkaskade sind die Unternehmensziele beziehungsweise die Strategie. Es ist unbedingt notwendig, dass die Geschäftsführung den Führungskräften der ersten Ebene ein gut begründetes und klares Bild über das Große und Ganze sowie die erforderliche Stoßrichtung des Unternehmens zeichnet, damit alle am gleichen Strang ziehen können. Auf dieser Basis wird die erste „Übersetzung“ in die nächste Hierarchieebene erarbeitet. Konkret geht es dabei um die Ableitung der erforderlichen Leistungen der Abteilungen, Bereiche oder Funktionen, die notwendig sind, damit das Unternehmen seine Gesamtziele erreichen kann. Bewährt hat sich, dies im intensiven Austausch zwischen den Führungskräften und der Geschäftsführung zu erarbeiten, um gute, sich unterstützende und widerspruchsfreie Ziele zu entwickeln. Ebenfalls hat es sich als sinnvoll erwiesen, hier bereits über den Ressourcenbedarf und mögliche Risiken zu sprechen, um gegebenenfalls schon in der Planung Konsequenzen zu ziehen.

Darauf aufbauend können nun die Führungskräfte der ersten Ebene mit ihren Führungskräften und/oder Mitarbeitern die Ziele für die nächste Ebene ableiten. Die Leitfrage lautet dabei: Was muss geleistet werden, damit die Ziele der Organisationseinheit erreicht werden können? In Abhängigkeit von Unternehmensgröße und Bedarf kann dieser Schritt in einer großen Runde (Geschäftsführung und Führungskräfte der ersten und zweiten Ebene) oder von den Führungskräften der ersten Ebene mit ihren Mitarbeitern und Teams allein durchgeführt werden. Für jeden Kaskadenschritt gilt es, die Gesamtstrategie klar zu vermitteln, damit allen Beteiligten das Verständnis für das Gesamtunternehmen nicht verloren geht und der eigene Beitrag dazu sinnhaft nachvollzogen werden kann. Um eine möglichst widerspruchsfreie Zielkaskade zu entwickeln, ist für alle weiteren Kaskadierungsschritte der Austausch über Ressourcen und Risiken vorzusehen. Ein kurzes Beispiel soll die Kaskadierung der Ziele veranschaulichen:

Die Geschäftsführung hat im Strategieprozess als eines von mehreren strategischen Zielen die Steigerung der Personalkostenproduktivität des Unternehmens auf den Faktor 1,8 bis 2,0 (Ist: 1,45) beschlossen. Daraus ergibt sich für den technischen Leiter eine drastische Reduzierung der Durchlaufzeit (DLZ) von Montageaufträgen. Der technische Leiter entwickelt aus seinen Zielen die Ziele für den Produktionsleiter. Der Produktionsleiter vereinbart wiederum auf Grundlage seiner Ziele mit dem Montageleiter dessen Ziele (die Abbildung zeigt die Kaskade entlang eines strategischen Unternehmenszieles bis hin zum Teamleiter).

Im RKW-Leitfaden „Für Ziele sorgen“ kann das Beispiel ausführlich nachgelesen werden. Zudem finden sich dort weitere Hilfestellungen (Hinweise für die Formulierung von SMART-Kriterien oder eine Vorlage für eine Zielebeziehungsmatrix zur Vermeidung von Zielkonflikten).

Um die Zielkaskade nicht zu überfrachten, empfiehlt es sich, diese nur für die Organisationseinheiten und deren Führungskräfte (Abteilungen, Bereiche, Funktionen, Teams) zu erstellen. Die Entwicklung von Zielen für einzelne Mitarbeiter ist Aufgabe der Führungskräfte.

2. Anwendung als Steuerungs- und Managementinstrument
Die fertige Zielkaskade enthält klare Aufträge für jede ergebnisverantwortliche Führungskraft, an denen sie später auch gemessen werden kann. Die Führungskräfte sind verantwortlich für die Umsetzung und Realisierung der Ergebnisse (siehe dazu auch Führungsnavigator, Kapitel III). Wie die Abbildung 2 verdeutlicht, informiert jede verantwortliche Führungskraft die Vorgesetzten der nächsthöheren Hierarchieebene über den Grad der Zielerreichung sowie gegebenenfalls über den begründeten Veränderungsbedarf der Ziele. So können die Rückmeldungen sukzessive von unten nach oben erfolgen, und die Zielkaskade wird zu einem Informationsund Steuerungssystem für die Geschäftsführung.

Großen Einfluss auf die Wirkung und den Erfolg der Zielkaskade hat der innerbetriebliche Umgang mit den verabschiedeten Zielen. Die flexible und offene Nutzung der Zielkaskade sowie der regelmäßige Austausch innerhalb der Hierarchieebenen und auch dar- über hinaus sind bereits erwähnt worden. Dabei kann in passenden Abständen über den Zielerreichungsgrad, die akuten und latenten Risiken, die Ressourcen und über Anpassungsbedarfe der Ziele gesprochen werden. Besonders bewährt hat sich der kollegiale Austausch zwischen den Führungskräften. Das heißt, wie mit den Zielen beziehungsweise mit Umsetzungsschwierigkeiten umgegangen wird, welche Lösungen gefunden wurden, wer gegebenenfalls unterstützen kann und so weiter. Die Erfahrung zeigt, dass die Führungskräfte – sofern ein offener Austausch möglich ist – sich gut im Sinne einer kollegialen Beratung unterstützen können und ein verbessertes Verständnis über unternehmensweite Zusammenhänge erlangen.