Ich bin fest davon überzeugt, dass wir uns in den Anfängen eines großen Wendepunkts befinden. Die digitale Welt verknüpft sich mit der analogen und schafft so eine neue Realität voller Möglichkeiten, Risiken und noch vieler unbekannter Entwicklungen. Die kommenden Jahre werden stark durch den Übergang in diese neue Welt geprägt sein. Wir gehen daher von erheblichen Anpassungsleistungen von Menschen und Unternehmen aus. Genauer betrachtet, müssen wir einerseits im Rahmen unserer betrieblichen Rollen den Wandel vorantreiben und gestalten. Andererseits müssen wir uns selbst an das hohe Veränderungstempo und die Neuerungen von außen anpassen.

Wir werden mit einer ungewissen Zukunft konfrontiert, die eine Vielzahl von kniffligen Problemen, Konflikten, Widersprüchlichkeiten, Druck und unüberwindbar erscheinenden Hindernisse mit sich bringen wird. Um in dieser emotionalisierenden Gemengelage handlungsfähig zu bleiben, ist eine gewisse Balance oder auch Verbindung zu unserer Mitte von hoher Bedeutung. In diesem Zustand sind wir „präsent“, haben einen guten Zugriff auf unsere Fähigkeiten, verfügen über ein gutes Urteilsvermögen, kommen mit unseren Mitmenschen zurecht und erleben ein akzeptables Wohlbefinden. Ein optimaler Zustand, um Probleme zu lösen und neue Herausforderungen im Alltag zu bewältigen – oder der Zukunft zu begegnen.

In gewissen Situationen können wir dieses Wohlbefinden und unsere Mitte jedoch verlieren, ausgelöst durch äußere Ereignisse oder das Überschreiten persönlicher Grenzen. Wir kippen dann in einen anderen Zustand ­­- meist unangenehmer und ungewollter Natur. Bei all den anstehenden Aufgaben ist es sehr unwahrscheinlich, dass wir Unsicherheit, Angst, Verzweiflung, Wut und anderen Gefühlen dauerhaft ausweichen können. Daher nehmen unsere Gefühle, und vor allem der Umgang mit ihnen, eine besondere Rolle ein. Wenn wir gewohnt sind, zu „funktionieren“, geht damit oft einher, dass wir die als störend empfundenen Gefühle nicht wollen, beiseiteschieben und uns „zusammenreißen“, damit wir sie in den Griff bekommen. Dies ist ebenso menschlich wie auch verständlich: Wer hat schon Lust auf Unsicherheit oder Angst? Diese „Strategie“ hat jedoch ihren Preis! Aus der Psychologie und der Coachingpraxis ist bekannt, dass die Aspekte, die wir ablehnen und vermeiden wollen, uns so einschränken, dass wir nicht mehr auf unser volles Handlungsspektrum zurückgreifen können. Unsere Aufmerksamkeit wird von dem Gefühl (z.B. Wut) bzw. von dessen Abwehr („Ich darf/will nicht wütend sein.“) absorbiert. Damit ist auch verbunden, dass unsere Handlungs-, Entscheidungs- und sozialen Interaktionsfähigkeit ebenfalls davon überlagert sind. Wir schöpfen in diesem Zustand nicht mehr aus unserem vollen Potenzial und begegnen unseren anstehenden Aufgaben mit diesen Einschränkungen. In manchen Fällen mag das vielleicht nicht weiter stören, in anderen Fällen hat dies zentrale Wirkung auf die Ergebnisse.

„Um die Zukunft bestmöglich mitzugestalten, braucht es daher die Kompetenz, den Wechsel unserer inneren Zustände besser zu erkennen und – (etwas) schneller als bisher – wieder zurück in unsere Mitte und damit zurück zu unserem vollen Handlungsspektrum zu kommen.“

Wie kann das gelingen?

Ein fruchtbarer Umgang ist, uns selbst und unseren Gefühlen freundlich und verständnisvoll zu begegnen, auch wenn sie uns womöglich unangenehm sind. Einerseits ist es ein Paradox (dem, was wir nicht wollen, freundlich zu begegnen) und andererseits ist dies der zentrale Schlüssel zur Entwicklung von Emotionskompetenz. Wie können wir mit dieser Herausforderung praktisch umgehen?

  • Erkennen, dass wir die Mitte verloren haben: Der Alltag steckt voller Einladungen, unsere Mitte zu verlassen. Daher hilft eine gewisse Achtsamkeit, um uns dieser Einladungen und unserer Reaktionen auf diese gewahr zu werden.
  • Erforschen und Wahrnehmen: Hier gilt es, neugierig zu erforschen, welches Gefühl sich in uns zeigt oder zeigen will. Dazu gehört vielleicht auch, den eigenen Widerstand und unsere Urteile unserem Gefühl gegenüber wahrzunehmen.
  • Annehmen der Gefühle: Beispielsweise mit einem inneren Satz „Ah, da ist Unsicherheit.“. Ein solcher Satz ermöglicht uns, das, was gerade da ist, uneingeschränkt anzunehmen. Dies hat Bedeutung, da die Gefühle ohnehin „da sind“ – durch das Annehmen verlieren sie jedoch einen Teil ihrer Macht über uns und können sich verändern.
  • Bewusste Weitung der Wahrnehmung: Solange wir noch auf den Widerstand gegen unser Gefühl fokussieren, fällt es uns schwer, zurück zu unserer Mitte zu finden. Durch die willentliche Weitung der Wahrnehmung lösen wir uns (ein Stück weit) von unserem Widerstand und kommen zurück in unsere Mitte.

„Es ist von großer Bedeutung zu verstehen, dass unsere Gefühle nicht falsch oder schlecht sind, auch wenn wir gewohnt sind, sie zu werten. Der springende Punkt ist, wie wir mit ihnen umgehen!“

Nachfolgend finden Sie eine Übung, mit der Sie diese Wahrnehmungstechnik für sich erproben können. Diese Schritte helfen uns, den anspruchsvollen Alltag besser zu bewältigen, wenn es mal „eng wird“. Wir können gelassener mit Stress und Druck sowie den Menschen um uns umgehen, erhalten unsere Mitte und Wohlbefinden. Dadurch verfügen wir über unser volles Können und Handlungsspektrum und sorgen so schließlich auch für bessere Ergebnisse im Unternehmen.

Übung: Fokussieren und Defokussieren

Die Übung ist eine Technik zur willentlichen Veränderung der eigenen Wahrnehmung. Ziel ist es, zu erfahren, dass unsere veränderte Wahrnehmung Einfluss auf die von uns erlebte Realität haben kann, d.h. allein durch einen veränderten Fokus auf eine Situation kann die erlebte Wirklichkeit verändert werden. Mit dieser Übung besteht die Möglichkeit, zu erfahren, welche Wirklichkeit sich beim Fokus auf einen Gegenstand (stellvertretend für ein Gefühl, Problem, Ablehnung) und welche sich unmittelbar beim Defokussieren und Lösen davon erfahren lässt. Hier gibt es kein Richtig und auch kein Falsch – beobachten Sie einfach Ihr Erleben.

  • Fokussieren Sie Ihren Blick auf einen beliebigen Gegenstand in der Nähe.
  • Konzentrieren Sie sich auf den Gegenstand und gehen Sie innerlich ganz auf Empfang: Wie fühlt sich dieser konzentrierte und enge Fokus an? Wie ist Ihr Empfinden, Ihre Atmung, Ihre Körperspannung und wie wirkt sich die Fokussierung auf Sie aus? Was passiert mit Ihrem Denken?
  • Lösen Sie jetzt den Fokus bewusst wieder auf, indem Sie visuell Kontakt mit anderen umliegenden Objekten im Sichtfeld aufnehmen. Der ursprünglich ausgewählte Gegenstand kann dabei in Ihrem Gesichtsfeld bleiben. Beziehen Sie bewusst und Schritt für Schritt andere Dinge und Gegenstände mit ein, bis Sie Ihr gesamtes Sichtfeld nutzen. Vermeiden Sie es dabei, auf einem einzelnen Objekt zu verharren.
  • Nehmen Sie jetzt zusätzlich auch bewusst die Umgebungsgeräusche wahr und halten dabei weiterhin das
  • weite Sichtfeld, ohne Ihren Blick zu fokussieren.
  • Im letzten Schritt vergegenwärtigen Sie sich Ihre Körperempfindungen; vielleicht durch ein tiefes Ausatmen begleitet.
  • Ihre gesamte Aufmerksamkeit ist jetzt auf das Sicht- und Hörbare sowie auf Ihre Atmung gerichtet. Gehen
  • Sie innerlich erneut ganz auf Empfang und beobachten Sie, wie Sie sich jetzt fühlen: Stellen Sie einen Unterschied fest? Wenn ja, woran können Sie ihn festmachen?

Mehr zur Emotionskompetenz sowie zu fünf weiteren Zukunftskompetenzen finden Sie in unserer neuen Publikation „Kompetenzen der Zukunft – Was hilft Organisationen und Menschen in der Transformation?“.

Sie wird Ende 2021 erscheinen und mehrere Tools und Übungen zum Kompetenzaufbau enthalten. Interessiert? Schicken Sie uns eine E-Mail an chefsachen(at)rkw.de, um Ihr Exemplar vorzubestellen.

Über die Autoren

Sascha Hertling ist Referent im RKW Kompetenzzentrum, ausgebildeter Coach und Berater. Er entwickelt Tools für Führungskräfte und begleitet sie in verschiedenen Workshop-Formaten. Inhaltlich arbeitet er vor allem daran, wie die Wirksamkeit von Führung verbessert und wie Unternehmen bei der Umsetzung ihrer Ziele unterstützt werden können. Kontakt: hertling(at)rkw.de

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