Einordnung

„Probleme sind nur dann Probleme, wenn sie nicht isoliert, nicht Stück für Stück bearbeitet und gelöst werden können. Gerade das macht ihre Problematik aus.“
Niklas Luhmann, 1987

Unternehmen sind (vereinfacht gesagt) Organisationen, die Geschäfte machen. Ihre Umwelten sind im stetigen Wandel. Entsprechend verändern sich auch die (in unserem Fall) mittelständischen Unternehmen und ihre Geschäftsmodelle permanent. Veränderung ist der Normalfall. In diesem steten Wandel erleben wir hin und wieder größere Umbrüche. Einiges spricht dafür, dass die Digitalisierung einen solchen Umbruch bezeichnet. Ob er ähnlich große Auswirkungen haben wird, wie die Erfindung der Dampfmaschine 1770 oder die aus Elektrizität und Chemie resultierenden Anwendungen in Form von Elektromotor, Radio, Energienetze und Telefon zu Beginn des 20. Jahrhunderts bleibt vorläufig offen (vgl. Schumpeter 2010).

Folgerichtig begegnen wir derzeit etwa Kfz-Händlern, die ihr ganzes Geschäft auf den Prüfstand stellen, Automobil-Zulieferern die sich fragen, wie folgenreich der Bedeutungsverlust von Verbrennungsmotoren sie treffen könnte oder Handwerksbetrieben, die plötzlich neuen und stark digitalisierten Konkurrenten gegenüber stehen. Und mitunter treffen wir findige Unternehmer, die aktiv die Spielregeln ihrer Branche selbst zu verändern suchen. Aber um der Wahrheit Genüge zu tun: Wir begegnen mindestens genauso vielen Unternehmen, die sich von der Digitalisierung nur am Rande betroffen fühlen und sich mit graduellen Anpassungen auch in Zukunft noch gut aufgestellt sehen.

Dass wir uns den Rahmen Geschäftsmodellentwicklung gegeben haben, ist gerade vor diesem Hintergrund nicht zufällig. Denn unabhängig davon, wie stark sich die Digitalisierung auf eine bestimmte Branche oder ein einzelnes Unternehmen bereits auswirkt, ist eine sich immer rasanter wandelnde und komplexer werdende Umwelt für die meisten längst Realität. Unsicherheiten nehmen zu und Möglichkeiten wachsen exponentiell. (Der Begriff VUCA (Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity) fasst die Rahmenbedingungen und Herausforderungen einer zunehmend digitalisierten Welt treffend zusammen (vgl. Laurencon 2014).) Klassische Ansätze der Strategieentwicklung greifen hier manchmal zu kurz, wo sie eher auf die kleinteilige Analyse und Anpassung des Bestehenden abzielen. Daneben haben sich seit der Jahrtausendwende vor allem in der Startup-Szene zahlreiche Ansätze entwickelt, die explizit Geschäftsmodellinnovationen, also weitreichende Veränderungen befördern wollen und Geschäftsmodelle im Ganzen, einschließlich des Wechselspiels der Elemente betrachten. Aber auch diese haben mitunter blinde Flecken, wo sie den Status quo, die Möglichkeitsräume und das Zusammenspiel des Neuen mit dem Alten nicht ausreichend ins Auge fassen.

Mit unserem Konzept der Geschäftsmodellentwicklung bemühen wir uns, das Beste aus verschiedenen Welten zu verbinden und dabei eine möglichst große Offenheit und Flexibilität zu gewährleisten. Denn ob ein leicht verändertes Geschäftsmodell oder eine grundlegende Geschäftsmodellinnovation sinnvoll ist, hängt vom jeweiligen Einzelfall ab und klärt sich häufig erst im Laufe des Prozesses. Deshalb ist unser Prozess so aufgebaut, dass er Unternehmen mit weitreichenden Vorhaben ebenso unterstützt, wie diejenigen, die nur inkrementelle Veränderungen anstreben – mit mehr oder weniger Digitalisierung als Werkzeug zur Umsetzung dieser Ziele.

Ganz in diesem Geiste lehnen wir uns selbstverständlich an Bewährtes an, wo es uns passend erscheint. Dazu gehören beispielsweise die Arbeiten von Roman Stöger, Wiegand F. GroßeOetringhaus oder Alexander Osterwalder. Auf einer grundlegenderen Ebene, in den Bauplänen unseres Ansatzes sozusagen, finden sich außerdem Anleihen an die Systemtheorie bzw. systemische Ansätze, die für uns mit Namen wie Niklas Luhmann, Reinhard Nagel, Rudolf Wimmer oder Klaus Eidenschink verknüpft sind. Wichtiger jedoch: Wir konnten einige unserer Glaubenssätze, die wir mitunter aus bestehender Strategieliteratur übernommen hatten, verwerfen und damit verlernen.

Dazu gehört allem voran das Missverständnis, es käme primär auf dezidierte Planungen oder eine möglichst erschöpfende Analytik an. Solche Festlegungen – so gut sie sich auch vermarkten lassen – verstellen aus unserer Sicht häufig eher den Blick auf das, was es im Einzelfall wirklich braucht und darauf, wie ein vielversprechendes Geschäftsmodell von morgen aussehen könnte.

Unser Ansatz gründet sich auf unseren Erfahrungen bei der Begleitung von kleinen und mittleren Unternehmen, die ihre Geschäftsmodelle bewusst verändern wollen. Mit diesem Workbook möchten wir sie weitergeben. Es soll in erster Linie Prozessverantwortliche und Prozessbegleiter dabei unterstützen, die Suche nach dem Geschäftsmodell von Morgen sinnvoll und erfolgreich zu strukturieren und zu begleiten.

Ausdrücklich sprechen wir uns gegen eine geschlossene Form und die Haltung aus, dass Geschäftsmodellentwicklungen in einer geschlossenen und linearen Form sinnvoll machbar wären. Der Titel Workbook ist deshalb ganz bewusst gewählt und durchaus wörtlich zu verstehen, denn es handelt sich nur sehr bedingt um eine Anleitung. Ein Strategieprozess ist ein Navigieren in einem komplexen Raum. Daher muss er so individuell zugeschnitten sein wie das Unternehmen in seiner spezifischen Umwelt. Soll er gelingen, ist ein situatives Vorgehen erforderlich. Wir laden Sie deshalb sehr herzlich dazu ein, etwas Eigenes aus den Inhalten zu machen! Lassen Sie das beiseite, was Ihnen unpassend erscheint, fügen sie dort etwas hinzu, wo der spezielle Fall eine Ergänzung notwendig macht, und gehen Sie dort Umwege, wo diese vielversprechend erscheinen.

Nichtsdestotrotz legen wir Ihnen unseren Rahmen ans Herz, mit dem sich Geschäftsmodellentwicklungsprozesse gut abbilden lassen, der den Blick auf wesentliche Zusammenhänge lenkt und sich an wesentlichen Unterscheidungen orientiert, ohne allzu viel auszublenden. Er hat uns als Ausgangspunkt und Strukturierungshilfe stets gute Dienste erwiesen. Im Folgenden werden wir Ihnen diesen Rahmen vorstellen und eine kurze Gebrauchsanleitung beilegen. Anschließend werden wir Ihnen einen idealtypischen Prozess im Detail anhand einiger brauchbarer Tools und unserer Erfahrungswerte beschreiben. Damit nehmen wir Lücken und Unsicherheiten bewusst in Kauf. Wir muten unseren Lesern mit diesem Workbook viel zu und vertrauen darauf, dass der gesunde Menschenverstand diese Lücken schließt. Gleichzeitig haben wir unterschiedliche Erfahrungen und Anwendungen mitunter stark verdichtet. In einer zweiten Version dieses Workbooks werden wir daher einige ausgewählte Abweichungen und Sonderfälle („Das Besondere“) nachliefern. Hier konzentrieren wir uns zunächst einmal auf das Gemeinsame, auf die Abläufe und Zusammenhänge also, die wir in den meisten Fällen als fruchtbar wahrgenommen haben.

Wir hoffen darauf, dass der Leitfaden etwas für Sie sinnvolles bereithält, und wünschen Ihnen nun viel Spaß bei der Lektüre und Erfolg bei der Anwendung.