Leistungsanforderungen und Betriebskulturen in den Optikfirmen

Leistungsanforderungen und Betriebskulturen in den Optikfirmen

Die Wahrnehmung und Bewertung von Arbeitsbelastungen ist außer von physiologischen und psychologischen Faktoren auch von kulturell und sozial bedingten normativen Standards und Leistungsorientierungen abhängig. Dies gilt etwa für arbeitswissenschaftliche Kriterien wie Zumutbarkeit und Persönlichkeitsförderlichkeit der Arbeit. Was als Termin- und Leistungsdruck gilt, wird mithin auch von betrieblichen und Arbeitskulturen bestimmt. Vor diesem Hintergrund ist ein Hinweis auf betriebskulturelle Faktoren im Untersuchungsfeld angebracht.

Die Optikbranche in Thüringen ist geradezu ein Paradebeispiel für "produktive Leistungsgemeinschaften" in Ostdeutschland, die sich seit den 90er Jahren mit qualitativ hochwertigen und innovativen Erzeugnissen erfolgreich auf internationalen Märkten etablieren konnten. Die personelle Basis hierfür bildeten qualifizierte Facharbeiter und Ingenieure, die mit hoher Leistungsbereitschaft und Betriebsidentifikation die wirtschaftlichen Erfolge ihrer Firmen auf den Weg brachten. Kollegialität, Loyalität sowie hohe Dienstleistungs- und Produktqualität bildeten dabei Wertmaßstäbe, auf die sich Beschäftigte und Führungskräfte gemeinsam beziehen konnten. Die Beschäftigten und Manager, die den Neuaufbau der Firmen seit den frühen neunziger Jahren vorangetrieben haben, bilden nunmehr die ältere Generation der Arbeitskräfte (50 plus). Angesichts der sozialisierenden Wirkung hoher Arbeitsanforderungen und der ausgeprägten Leistungsorientierung ist zu erwarten, dass die Messlatte bei der Bewertung dessen, was als Leistungsdruck und Stress angesehen wird, tendenziell recht hoch liegt.

Arbeitsanforderungen, Belastungen und Ressourcen aus Sicht der Manager

Im Hinblick auf die Darlegungen zu Arbeitsanforderungen und Belastungen ist zu betonen, dass sie auf den Auskünften der befragten Manager über die Arbeitsbedingungen in ihrem Betrieb fußen. Wie die Mitarbeiter selbst ihre Situation einschätzen, muss vor diesem Hintergrund offen bleiben.

In der Quintessenz gingen die Manager von einer eher undramatischen Belastungssituation für die Beschäftigten in ihren jeweiligen Unternehmen aus. Der Grundtenor ihrer Ausführungen lautete: Stress gibt es zwar zeitweilig, aber nicht als Dauerbelastung. Bisweilen machten sie dabei deutlich, dass sie die öffentliche Debatte über Stress und Burnout für überzogen hielten. In den Gesprächen ergaben sich gleichwohl einige Anhaltspunkte zum Auftreten von Arbeits- und Zeitdruck in der alltäglichen Arbeit.

Die Facharbeiter: Prozessstandards schützen vor hohem Zeitdruck

Die gewerblichen Tätigkeiten an den Maschinen und Anlagen sowie die komplexen Montageoperationen (insbesondere bei Mikrobauteilen) erfordern großes Fachwissen und häufig auch handwerkliches Geschick sowie längere Phasen der Konzentration, um die Qualitätsstandards zu erreichen. In diesem Sinne sind die Prozesszeiten mit beträchtlichen kognitiven und feinmotorischen Anforderungen gleichsam ausgefüllt. Da die Tätigkeiten nicht strikt und detailliert normiert werden können, bestehen für die Beschäftigten auch Handlungsspielräume im Hinblick auf Arbeitseinteilung und Arbeitsvorgehen.

Die Interviewpartner schätzten die Belastungssituation vor allem bei den gewerblichen Beschäftigten als moderat ein. Die Eigenschaften der hochgradig qualitätssensiblen technischen Prozesse schirmen die Facharbeiter in hohem Maße von Terminund Leistungsdruck ab. Der Geschäftsführer eines kleinen Herstellers mikrooptischer Systeme machte deutlich, dass man aufgrund negativer Erfahrungen in Punkto Qualität sehr vorsichtig mit Maßnahmen zur Verkürzung der Fertigungszeiten ist:

Man sei in der Vergangenheit schon oft damit "auf die Nase gefallen", dass Fertigungszeiten verkürzt wurden, um dem Kunden einen Gefallen zu tun. Dies hatte dann Ausfälle zur Folge, die der Kunde ja nicht ersetzt. Deswegen sei auch der Produktionsplaner manchmal etwas gutmütig, um auf Nummer sicher zu gehen. Kundenwünsche finden ihre Grenze, wenn sie zulasten der Qualität gehen. "Dann geht eben die Sache mal nicht" (F1).

Wenn die Prozessbedingungen eine schnellere Bearbeitung der Aufträge nicht zulassen, wird der Termindruck durch Mehrarbeit bewältigt. Bei einem mittelgroßen Hersteller von optischen Speichermedien etwa schlagen sich Terminzwänge oder das Erfordernis, Ausfallzeiten an Maschinen zu kompensieren, in Überstunden und Samstagsarbeit für die Mitarbeiter nieder (F3).

Überdies werden von einem Gesprächspartner bisweilen auftretende "hausgemachte" Organisations- und Abstimmungsprobleme als Stressursachen benannt. Sie erfordern Neudispositionen bei der Auftragsbearbeitung.

"Die schlechte Interaktion zwischen den Abteilungen führt zu unnötigem Stress, weil ständig irgendwelche Sachen dazwischen genommen werden müssen" (F4).

Führungskräfte und Ingenieure: durch hohe Erwartungen der Kunden stark gefordert

Auch bei hochqualifizierten Ingenieuren, Naturwissenschaftlern und Führungskräften berichten die Gesprächspartner nicht von eskalierenden Leistungsanforderungen. Gleichwohl kommen Anforderungen zum Vorschein, die zumindest temporär zu Stress führen. Sie sind häufig an Vertriebsfunktionen und Kundenbeziehungen geknüpft.

Die Nachfrage nach den Erzeugnissen unterliegt oft starken Schwankungen auf den Märkten. Die Auftragsbearbeitung muss, um die Kunden zu halten, unter den Bedingungen hoher Qualitätsstandards und strikter Termintreue erfolgen. Zudem üben die Abnehmer Druck auf eine Senkung der Lieferzeiten aus. Zum Teil verlangen sie auch während der Auftragsbearbeitung Zusatzleistungen. Diese Flexibilitätsanforderungen müssen vor dem Hintergrund weitgehend vordefinierter und komplexer technischer Prozesse und Fertigungszeiten von Geschäftsführern, dem Vertriebspersonal sowie auch von Produktionsleitern geschultert werden. Sie sind gefordert, ihren Kunden deutlich zu machen, was technisch machbar ist, und im Rahmen der technischen Möglichkeiten Neudispositionen bei der Produktion und Leistungserstellung vornehmen. Auch muss rechtzeitig mit den Kunden vereinbart werden, dass Änderungswünsche preislich berücksichtig werden. Vor diesem Hintergrund erklärt der Geschäftsführer des Herstellers mikrooptischer Systeme (F1) auf die Frage nach Arbeitsstress bei den Beschäftigten

"Stress ist in den Führungsetagen: Bei uns bleibt das hängen, was nicht nach unten weitergegeben werden kann. Damit muss man umgehen und Lösungen finden. Natürlich erzeugt das Stress, entweder bei der Geschäftsführung oder bei der Produktionsleitung".

Die Erwartungen und Standards der Kunden wirken auch auf die Ablauforganisation ein. Die Kunden verlangen von den Firmen Zertifizierungen und Audits, um Transparenz herzustellen und Qualität sicherzustellen. Der Geschäftsführer eines mittelgroßen Herstellers präzisionsoptischer Systeme stellte fest:

"Es ist schon so, dass die Kunden alles genau wissen wollen, überall mit reinreden wollen, Informationen haben wollen und Druck auf Liefertermine, technische Sachen und Abläufe ausüben. Das hat im Vergleich zu früher schon zugenommen. Die Werker an der Maschine sind von solchen Verhandlungen mit Kunden und Dokumentationspflichten zwar nicht betroffen, die Ingenieure aber schon. Das liegt auch an Abnehmerbranchen wie Luft- und Raumfahrt, Medizintechnik und Sicherheitstechnik" (F4).

Technisches Know-how, Innovationsfähigkeit und Teamfähigkeit des Personals sind Tugenden, auf die die Firmen gerade bei ihren technisch-naturwissenschaftlichen Fachkräften bauen können. In den Teams sind eine selbständige Planung und Einteilung der Arbeit sowie kreative Problemlösungen erforderlich, um die fachlich anspruchsvollen und komplexen Aufgaben zu erledigen. Gleichwohl bringen Ablaufstandards, Dokumentationspflichten, strenge Kostenkalkulationen und Zeitvorgaben bei der Auftragsbearbeitung eine hohe Regelungsdichte für die Ingenieursarbeit mit sich. Der Geschäftsführer eines Herstellers und Entwicklers von Optoelektronik machte dies anhand des folgenden Beispiels deutlich:

Bei einem größeren Auftrag, z.B. bei der Entwicklung einer Leiterplatte für ein Messgerät, werden die Entwicklungsarbeiten unter Preis- und Zeitgesichtspunkten geplant und in Arbeitspakete aufgeteilt. Für die Softwareentwicklung werden beispielsweise 800 Stunden veranschlagt, die in drei Arbeitspakete unterteilt werden, z.B. Stunden für Schaltungsentwicklung, für Lay-out sowie für Tests und Inbetriebnahme. Die Aufgaben werden in Teams bearbeitet. Bei der Abarbeitung der Aufträge sind die Anforderungen eines umfangreichen Lastenheftes einzuhalten.

Zur Steuerung der hochkomplexen Prozesse im Betrieb wird SAP eingesetzt. Auf dieser Basis erfolgt ein wöchentliches Projektcontrolling im Lenkungskreis, in welchem alle Abweichungen besprochen werden. In einem 20-seitigen Projekt-Managementleitfaden sind die Prozesse der Firma niedergeschrieben (Meilensteine: Wer, was, wann). "Lediglich auf Zuruf findet Nichts statt. Alles ist geregelt. Das erwarten die Kunden". Überforderung und Stress treten, so der Interviewpartner dann auf, wenn die planmäßige Durchführung der Arbeit gefährdet ist. Das sei allerdings "kein Breitenproblem" und werde in einem Feedback-Gespräch bearbeitet (F2).

Körperliche Belastungen: Punktuelle Gefährdungen

Aus Sicht der Gesprächspartner haben körperliche Belastungen und Gefährdungen eine insgesamt betrachtet lediglich punktuelle Bedeutung. Hierbei können sich die Manager auf die Ergebnisse der in ihrem Hause durchgeführten Gefährdungsbeurteilungen körperlicher Belastungen beziehen. Im Hinblick auf eine bereichsbezogene Belastung berichtet der Geschäftsführer des Herstellers mikrooptischer Systeme von einem Belastungsschwerpunkt, bei dem gerade für Ältere kritische physische und psychische Belastungen zusammenwirken:

In der Fertigung gibt es rein stehende Tätigkeiten, was einem älteren Mitarbeiter auf die Dauer schwerer fällt als einem jüngeren Mitarbeiter. Es gibt stehende und sitzende Tätigkeiten, die lange dauern und Ausdauer und Konzentration erfordern: eine halbe bis eine Stunde an einem Prozess bleiben, manchmal auch in Kombination stehend und sitzend über einen ganzen Tag. Das stecken Jüngere wohl besser weg als Ältere, die möglicherweise ein Problem mit dem Rücken mitbringen (F1).

Als körperliche Belastungen, die freilich nur selten auftauchen, nennen die Manager überdies schweres Heben (20 Kg) sowie auch Chemikalien.