Deutschland besitzt – gemeinsam mit nur wenigen anderen Ländern – ein duales Ausbildungssystem. Das Besondere daran: Auszubildende lernen parallel in Schule und Betrieb, verbinden also Theorie und Praxis. Dieses System war eine wichtige Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg nach dem Zweiten Weltkrieg – und viele Länder beneiden uns darum. Zahlreiche Staaten versuchen, oft mit deutscher Unterstützung, ein vergleichbares Modell einzuführen – mit sehr unterschiedlichem Erfolg.
Heute steckt die duale Ausbildung in der Krise
Inzwischen befindet sich die duale Ausbildung in Deutschland jedoch in einer ernsten Krise. Der Anteil junger Erwachsener mit Berufsabschluss ist in den letzten Jahrzehnten stark gesunken. Während 2015 noch rund die Hälfte aller 25- bis 34-Jährigen einen Berufsabschluss hatte, waren es 2023 nur noch 38 Prozent – der stärkste Rückgang unter allen OECD-Ländern.
Die Gründe sind vielfältig: zunehmende Akademisierung, sinkende Zahl Jugendlicher aufgrund des demografischen Wandels, mangelnde Attraktivität bestimmter Berufe oder ein Arbeitsstart ohne Ausbildung. Hinzu kommen Probleme innerhalb des Systems selbst, etwa eine unzureichende Finanzierung, die dringend gelöst werden müssen.
OECD-Studie zeigt „Teenage Career Readiness“ weltweit
Die PISA-Studie 2022 befragte 690.000 Jugendliche aus 81 Ländern. Daraus hat die OECD den Bericht „Teenage Career Readiness“ („Karrierebereitschaft von Jugendlichen“) erstellt. Das zentrale Ergebnis: Weltweit klafft eine erhebliche Lücke zwischen den Berufswünschen von Jugendlichen und den tatsächlichen Anforderungen des Arbeitsmarkts.
Rund 40 Prozent der 15-Jährigen fühlen sich unsicher in Bezug auf ihre berufliche Zukunft – ein deutlicher Anstieg seit 2018. Nur 61 Prozent haben klare berufliche Vorstellungen, ein historischer Tiefstand. Auch in Deutschland ist die Unsicherheit groß: Vier von zehn Jugendlichen wissen nicht, welchen Beruf sie anstreben. Das deutet auf Defizite in der Berufsorientierung hin.
Berufsorientierungsmaßnahmen in Deutschland
Wie sieht die Berufsvorbereitung in Deutschland konkret aus? Laut OECD liegt Deutschland bei „Praktika“ an der Spitze: 73 Prozent der befragten Jugendlichen haben bereits ein Praktikum absolviert – der höchste Wert weltweit. Dahinter folgen Dänemark und Frankreich.
Auch die Eigeninitiative ist hoch: 88 Prozent der Schülerinnen und Schüler haben selbst im Internet zu Berufsthemen recherchiert, ein Wert, der nur von Frankreich übertroffen wird.
Beim Besuch einer Ausbildungsmesse wird das Bild schwächer. Obwohl viele Jobmessen von Kammern und anderen Institutionen organisiert werden, hat nicht einmal ein Drittel der Jugendlichen jemals eine solche Messe besucht. In der Schweiz sind es mehr als doppelt so viele.
Besonders schlecht schneidet Deutschland beim „Job Shadowing“ (einen Tag lang einer erfahrenen Fachkraft über die Schulter schauen) ab: Nur 41 Prozent der Jugendlichen haben diese Erfahrung gemacht. In der Schweiz sind es 79 Prozent, in Dänemark 71 Prozent.
Von Azubi-Speed-Datings und Ausbildungsbotschaftern
Neben den in der Studie genannten Formaten gibt es zahlreiche weitere Maßnahmen von Kammern, Arbeitsagenturen und anderen Akteuren: Seien es „Azubi-Speed-Datings“, die „Nacht der Ausbildung“, "Ausbildungsbotschafter", "Lehrstellenrallyes" oder „Berufsbildung on Tour“. Viele davon sind jedoch nur regional verfügbar und nicht flächendeckend etabliert.
Berufsorientierung in Schulen – Nordeuropa und Costa Rica machen es vor
Beim Thema „Berater an Schulen“ liegt Deutschland im hinteren Feld. Nur 44 Prozent der Schülerinnen und Schüler hatten bereits ein Gespräch mit einer solchen Fachkraft. Die nordischen Länder sind hier deutlich besser aufgestellt.
Überraschend stark ist Costa Rica: 59 Prozent der Jugendlichen geben an, in der Schule mit einer Berufsberaterin oder einem Berufsberater gesprochen zu haben. Seit 1957 ist die Berufs- und Ausbildungsorientierung dort gesetzlich verankert. Speziell an eigenen Hochschulen ausgebildetes Personal ist an allen Bildungseinrichtungen fest eingesetzt und ausschließlich für die Berufsorientierung zuständig. In Deutschland übernehmen diese Aufgabe – sofern überhaupt vorhanden – meist Lehrkräfte ohne spezielle Ausbildung oder Sozialarbeitende.
Jugendliche fühlen sich schlecht auf den Berufseinstieg vorbereitet
Auf die Frage „Fühlst du dich im letzten Jahr der Schulpflicht gut auf deinen zukünftigen Weg vorbereitet?“ landet Deutschland auf dem vorletzten Platz – nur knapp vor Südkorea. 57 Prozent der Jugendlichen fühlen sich nicht gut oder überhaupt nicht vorbereitet. Am besten schneiden hier Kolumbien, Dänemark und Costa Rica ab.
Ähnlich ernüchternd fällt die Antwort auf die Frage aus, ob die Schule gut auf die Anforderungen im Job vorbereitet: 59 Prozent der deutschen Schülerinnen und Schüler stimmen hier nicht oder überhaupt nicht zu – der schlechteste Wert aller teilnehmenden Länder.
Was denken Jugendliche über ihre Karrieremöglichkeiten?
In Costa Rica wissen 81 Prozent der Jugendlichen, welchen Beruf sie mit 30 Jahren ausüben wollen. In Deutschland sind es nur 51 Prozent – Platz drei von hinten. Beim Thema Bildungsambitionen landet Deutschland sogar auf dem letzten Platz: 49 Prozent gehen nicht davon aus, jemals höhere Qualifikationen oder Bildungsabschlüsse zu erreichen.
Fazit
Deutschland ist in einigen Bereichen der Berufsorientierung gut aufgestellt. Unternehmen setzen - trotz Wirtschaftskrise - erfolgreich auf Praktika, und viele Jugendliche nutzen diese Chance. Auch Ausbildungsmessen haben zugenommen, und es gibt zahlreiche weitere Gelegenheiten, mit Betrieben in Kontakt zu treten.
Ein großes ungenutztes Potenzial liegt jedoch in einer systematischen Berufsorientierung an Schulen durch speziell ausgebildetes Fachpersonal – so, wie es in Costa Rica seit Jahrzehnten Standard ist. Ohne diesen Schritt wird es schwer, die Berufsorientierung in Deutschland auf ein zukunftsfähiges Niveau zu bringen.
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