Notwendige Kompetenzen, um auf die Ausgangssituation zu antworten

Führung benötigt ein Gleichgewicht zwischen Explore und Exploit (zu deutsch etwa erkunden und verwerten): „Maintaining an appropriate balance between exploration and exploitation is a primary factor in system survival and prosperity” (March 1991, S. 71). Damit diese Balance wirksam etabliert werden kann, muss sich Führung in einem dreifachen Sinn selbst erneuern: auf der Ebene der Selbstentwicklung, der Führungsmannschaft als Team und der Führung als organisationale Leistung. Letztere muss sich anders präsentieren als in den überholten Formen der hierarchischen Kaskadenkommunikation oder rein monetär gesteuerten Ziel-, Bonifikations- und Karrierelogiken (Heitger & Schubert 2013).

Diese neue Zeit bedeutet auch, dass man sich selbst hinterfragen muss, auch wenn dieser Gedanke unbequem ist und deshalb ungern gedacht wird, denn man wird etwas finden, dass es zu verändern gilt, um Schritt zu halten – und das ist bekanntlich mit einigen Mühen verbunden. Doch in vielen Branchen heißt es gerade jetzt, grundlegend neu zu lernen, um erfolgreich zu bleiben. Betrachten wir Führung zunächst als individuelle Leistung, geht es um drei Schwerpunkte: Qualifikation, Engagement aufbauen und das eigene Selbstverständnis als Führungskraft überdenken.

Zu 1: Qualifikation heißt hier nicht nur neue Expertise aufzubauen, sondern beinhaltet auch den „halbwegs angstfreien Umgang mit Nichtwissen“ (Wimmer 2009, S. 26). Dabei über den Tellerrand schauen, Neues wagen, nicht wissen, was dabei rauskommt und trotzdem aktiv bleiben, mit Prototypen arbeiten und so lange probieren, bis es gut ist. Das ist der Spagat, der zu leisten ist. Führung hat dabei die Aufgabe, für Räume mit psychologischer Sicherheit zu sorgen, in denen Ausprobieren und Imperfektion nicht sanktioniert, sondern belohnt werden und dies immer im Rahmen einer kraftvollen Vision, die trägt: „The future will reward clarity – but punish certainty“ (Johansen 2017, S. viii).

Zu 2: Commitment war gestern – der psychologisch-materielle Kontrakt zwischen Mitarbeitenden und Führungskräften ist derzeit sensibler und auch instabiler denn je. Nicht nur in Bezug auf Kunden braucht es Fokussierung, es geht auch um eine neue Art von Mitarbeiter-Centricity: “Catering to the changing expectations and demands of today’s and tomorrow’s skilled employees is not dramatically different from what organizations everywhere are already doing today to meet the expectations and demands of their customers.” (KPMG 2018) Die Workforce von morgen – und damit sind nicht nur junge Mitarbeiter gemeint – stellt Sinn- und Wertefragen konsequenter in den Mittelpunkt eigener Entscheidungen. Hier gilt es, glaubwürdige Antworten zu liefern, die zur eigenen Identität als Führungskraft und zur Geschichte des Unternehmens passen. Die Organisation von morgen wird noch radikaler als heute den „ganzen Menschen“ integrieren – Stichwort: „bring the whole person to work“ – und muss daher auch Antworten und Angebote für den „ganzen Menschen“ transportieren. Dass insbesondere die Führungskräfte hier gefragt sind, liegt auf der Hand.

Zu 3: Das eigene Selbstverständnis als Führungskraft weiterzuentwickeln ist wohl die schwierigste Übung. Geht es doch darum, der Logik, in der man als Führungskraft sozialisiert wurde, (zumindest teilweise) ade zu sagen. Macht, Autorität und Führung sind neu zu definieren. Macht ist ein symbolischer Raum, der durch Interaktion ermöglicht wird und daher immer auch anders inszeniert werden kann. Im Sinne einer Wieder-Ermächtigung von Führung geht es darum, neue funktionale Asymmetrien zu etablieren. Das heißt schlichtweg, neue Unterschiede einzuführen, die wirksam sind. Eine Ressource zum Aufbau von Macht und Autorität ist zum Beispiel Aufmerksamkeit, die bewusst gelenkt und gestaltet wird. So etwa, indem Meetings – eine oftmals als Zeitkiller erlebte Alltäglichkeit – lebendiger an den tatsächlichen Fragen oder Bedürfnissen der Beteiligten ausgerichtet werden. Der agile Werkzeugkoffer bietet hier eine Fülle von Möglichkeiten, von Kanban-Boards über Stand-Ups und Retrospektiven bis hin zu holokratischen Organisationsformen. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Verzeitlichung von Macht durch das Etablieren alternativer Entscheidungsprozesse. Auch hier stellen die Methoden soziokratischer Entscheidungsmodelle eine Fülle von Alternativen bereit.

Im zweiten Schritt nun Führung als Mannschaftsleistung zu verstehen, setzt den Fokus darauf, sich auf Peer-Ebene mit anderen Führungskräften zu verbinden. Silo war gestern! Jetzt heißt es, auf ein gemeinsames Zukunftsbild zuzusteuern und dabei voneinander zu lernen. Dafür ist das Investment in die Führungscommunity notwendig und der tiefe Glaube daran, dass man gemeinsam stärker, klüger und wirksamer ist als alleine. Insbesondere dann, wenn die Krise der Führung eine systemische ist, scheint es ratsam, auf die Kraft eines Teams zu setzen.

Als organisationale Fähigkeit schlussendlich heißt Führung, Strukturen zu etablieren oder dahingehend zu verändern, dass sie alternative Entscheidungsprozesse zulassen. Hier kommt man um den Mode-Begriff der Agilität nicht herum. Dieser soll nicht als Allheil-Mittel, sondern vielmehr als ein verändertes Mindset betrachtet werden, das eine Antwort auf die sich immer schneller verändernden Umwelten darstellt. Dabei wird der Schwerpunkt von Hierarchie, Kontrolle und langfristiger Planung hin zu Aufbau und Nutzung von Netzwerken (Ökosystemen), kontinuierlicher Befähigung der Mitarbeitenden und dem (Aus-)Testen kurzfristiger Zielsetzungen verschoben (Novotny, 2016). Ziel ist dabei, die Organisation flexibel und antwortfähig zu gestalten, Innovationsfähigkeit zu etablieren und zu erhalten durch iterative, kurz-zyklische Prozesse und organisationales Lernen.

Basierend auf den oben beschriebenen Beobachtungen sehen wir folgende persönliche Kompetenzen, die Führungskräfte in der beschriebenen Krise in ihrer Wirksamkeit unterstützen können (Eberhardt & Majkovic 2015).