Im ersten Teil dieser Artikel-Reihe ging es vor einigen Wochen um die Angst, nicht dazuzugehören und die negativen Auswirkungen gesellschaftlicher Ausgrenzung auf die Leistungsfähigkeit der Betroffenen. Es wurde beschrieben, wie wichtig es auch im betrieblichen Kontext ist, Stereotypen und Vorurteilen mit vielfaltsbewusstem Handeln gegenüberzutreten. So ist nämlich gewährleistet, dass die Weichen für gelungene Integration früh gestellt sind. Ein wichtiger Fokus war die Problematik einer sich selbst verstärkenden emotionalen Negativspirale (selbsterfüllende Prophezeiung), ausgelöst durch das Gefühl aufgrund von Hautfarbe, Religion oder anderen (äußerlichen) Merkmalen ausgegrenzt zu werden. Im zweiten Teil wird nun die Dynamik der selbsterfüllenden Prophezeiung noch etwas genauer unter die Lupe genommen.

Schublade auf, Schublade zu

Wenn man über Stereotype und Vorurteile nachdenkt, dann meist mit der Intention, am Schubladendenken einzelner Personen oder der Gesellschaft als Ganzes etwas zu ändern. Relativ schnell kommt man allerdings zu dem Schluss, dass das gar nicht so einfach ist. Unser menschliches Gehirn funktioniert nun mal so, dass wir neue Informationen mit abgespeichertem "Material" vergleichen. Das hilft uns, zum Beispiel aus Fehlern zu lernen und intuitiv auf bereits erlebte oder vermeintlich bekannte Situationen zu reagieren.

Doch im Zusammenleben und -arbeiten mit Menschen, die vielleicht anders heißen, aussehen, sprechen oder denken als man selbst sind diese gedanklichen Abkürzungen problematisch. Nur weil jemand einer bestimmten "Merkmalskategorie" oder "Diversity-Dimension" zugeordnet werden kann, bedeutet das nicht automatisch, dass unsere erstbesten Assoziationen damit zutreffen. Ein klassisches Beispiel hierfür  ist nationalstaatliche Zugehörigkeit. Ist es wirklich so, dass jemand der jenseits einer unsichtbaren Gemarkung lebt und aufgewachsen ist, soundso ist, und wir hier drüben so? Ist der Bayer dem Ostfriesen ähnlicher, als der Elsässer dem Breisgauer? Es hilft also schon mal, darüber nachzudenken, wie wir nachdenken. Um diese Thematik auf Alltagssituationen im Arbeitsleben zu übertragen, sollen diese Fragen im Folgenden erklärt werden:

  • Wie etablieren sich Stereotype und Vorurteile eigentlich in einem Betrieb?
  • Welche Rolle spielen dabei die anderen Beschäftigten?
  • Wieso wird man diese Klischees nur so schwer wieder los?
  • Und was macht die ständige Konfrontation mit Stereotypen und Vorurteilen eigentlich mit den Betroffenen?

Antworten liefert ein Blick in die Sozialpsychologie...

Der Andorra Effekt

Benannt nach einem Theaterstück von Max Frisch, beschreibt der sogenannte Andorra-Effekt, dass sich Menschen häufig an gesellschaftliche Beurteilungen und Einstellungen in Bezug auf ihre soziale oder ethnische Zugehörigkeit (vermeintlich) anpassen – und zwar unabhängig davon, ob diese ursprünglich berechtigt waren oder nicht. In Frischs Werk verändert sich der Charakter des Protagonisten aufgrund ständiger antisemitischer Anfeindungen. Obwohl er selbst nicht jüdischer Abstammung ist, gleicht er sich nach und nach den ihm vorgeworfenen Vorurteilen an. Im übertragenen Sinne ist dieser Effekt auch am Arbeitsplatz vorstellbar.

Wird sich beispielsweise gegenüber eines ausländischen Mitarbeiters wiederholt kulturspezifischer Klischees bedient

In XY-Land arbeitet ihr ja nicht so fleißig und präzise wie wir hier in Deutschland, oder? Da wirst du dich noch umschauen...

, dann setzt sich dieses irgendwann in den Köpfen der Beteiligten fest. Plötzlich werden Situationen vermeintlicher Unproduktivität mit dieser Aussage verknüpft und es verfestigt sich tatsächlich ein negativer Eindruck von der Leistungsfähigkeit dieser Person.

Aha, der ist ja schon wieder beim Kaffee trinken. Vielleicht ist ja doch was dran, dass die da drüben/oben/unten faul sind!

Diese Dynamik führt dann allgemein zu sinkenden Erwartungen an den Betroffenen, der wiederum aufgrund des fehlenden Vertrauens und Supports auch tatsächlich objektiv betrachtet schlechtere Ergebnisse abliefert und frustriert ist. In diesem Fall hat sich das ursprüngliche Vorurteil gewissermaßen selbst bestätigt bzw. erfüllt. Das problematische daran: Für die selbsterfüllende Prophezeiung ist es irrelevant, ob – um in dem Beispiel zu bleiben – die betroffene Person tatsächlich häufiger am Kaffeeautomat steht. Entscheidend ist vielmehr die verstärkte Wahrnehmung der Anderen aufgrund der kognitiven Verknüpfungen zwischen kulturspezifischer Klischees und Leistungsfähigkeit.

Wie lässt sich dem entgegenwirken?

  • Drehen Sie die Wirkung um und nutzen Sie den sogenannten Pygmalion Effekt! Zeigen Sie als Führungskraft oder Kollege mit Ihrem Verhalten beispielsweise, dass Sie von den Fähigkeiten eines neuen Beschäftigten besonders überzeugt sind, ohne dass die Erwartungen zu hoch geschraubt werden oder Sie unnötig Druck erzeugen. Untersuchungen bei Schülern haben gezeigt, dass positiv gefordert bzw. geförderte Menschen zu enormen Leistungssprüngen in der Lage sind, da sich das Umfeld analog zum Andorra-Effekt an den Erwartungen an die Person anpasst - in diesem Fall im positiven Sinne. (Lesen Sie mehr über den Pygmalion-Effekt sowie weitere Beispiele in der neuen Studie des BIM und SVR zum Thema Vielfalt im Klassenzimmer.)
  • Gerade bei der Integration von vielfältigen Mitarbeitern (z. B. mit Migrationshintergrund) ist es wichtig, als Führungskraft mit einem guten Beispiel voran zu gehen. Betonen Sie die individuellen Blickwinkel und Fähigkeiten Einzelner als Stärken (zum Beispiel Sprachkenntnisse) und vermeiden Sie auch hier verallgemeinernde Zusammenhänge. Kulturelle Hintergründe als Grund für gesteigerte Erwartungen anzugeben, könnte nämlich auch zu Spannungen führen. Hier fühlen sich möglicherweise wiederum Andere benachteiligt.
  • Machen Sie sich bewusst, dass Menschen, die sich einer Minderheit zugehörig fühlen, häufig schon gesellschaftliche Ausgrenzungserfahrungen durchlebt haben und "alltägliche" Situationen vielleicht anders bewerten.
  • Etablieren Sie im gesamten Betrieb ein Bewusstsein für die Vielfältigkeit der einzelnen Mitarbeiter in Ihrer Belegschaft. Dabei wird Ihnen zukünftig der INQA-Check "Vielfaltsbewusster Betrieb" helfen.
  • Alle Beschäftigten haben jeweils ganz persönliche Stärken und Schwächen und entwickeln fortlaufend eigene Blickwinkel und Fähigkeiten. Schauen Sie bewusst auf diese Vielfalt, entdecken Sie den Nutzen daraus und fördern Sie die Vielfalt.

Letztlich ist es entscheidend, sich darüber im Klaren zu sein, dass wir alle dazu neigen, in Schubladen denken. Allerdings ist es wichtig, sich nicht allein auf diese Denkreflexe zu verlassen, sondern offen für Neue(s) zu sein. Diese Erkenntnis allein ist schon viel wert. Aus ihr kann eine erhöhte Sensibilität für Ausgrenzungserfahrungen und Frustration entstehen, welche letztlich Integration befördert.

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