Positive Veränderung nach 65 patriarchalischen Jahren

Elisabeth Kramer übernahm vor einigen Jahren von ihrem Vater die Geschäftsführung eines Bauunternehmens mit 18 Beschäftigten. Die Betriebswirtin spricht in unserem Interview offen über die Herausforderung, als Frau ein Unternehmen in einer männerdominierten Branche zu führen, ihr persönliches Verständnis von „Vielfalt“ und die Notwendigkeit, als Führungskraft sich selbst und sein eigenes Handeln reflektieren zu können.

Frau Kramer, was verbinden Sie mit dem Thema Vielfalt?

Erst einmal gut, dass Sie nicht von „Diversity“ sprechen. Das klingt so theoretisch, abstrakt, weit weg. Viele schreckt es sogar ab. „Vielfalt“ ist für kleine und mittlere Betriebe (KMU) passender, denn jeder Betrieb ist vielfältig, zum Beispiel in puncto Sichtweisen, Mentalität oder Alter. Diese verschiedenen Persönlichkeitsfacetten muss ich erkennen und wertschätzen, denn durch sie wird das Unternehmen zu dem, was es ist. Wenn man dieses Bewusstsein ins tägliche Handeln integriert, kann man sich auf die speziellen Bedürfnisse der Mitarbeiter – oder auch Kunden – einstellen. Unbewusst macht man da häufig schon ganz viel. Die Chance liegt aber darin, das Thema ins Bewusstsein zu holen. Dann kann man Potenziale auch nutzen. Hier haben KMU mit ihren kurzen Entscheidungswegen und der direkten Kommunikation sogar Vorteile gegenüber den Großen. Veränderungen können dort schneller und direkter angestoßen werden – die Führungskraft muss nur wollen.

Sie betonen die Potenzialorientierung. Als Geschäftsführerin sind Sie für den Erfolg Ihres Unternehmens verantwortlich. Kann vielfaltsbewusste Führung zum Erfolgsfaktor werden? Und wenn ja, wie?

Je wertschätzender eine Führungskraft mit den unterschiedlichen Mitarbeitern und Kunden umzugehen weiß, desto zufriedener sind die Menschen. Ebenso kann ich Beschäftigte gezielter einsetzen. Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Erfolg und vielfaltsbewusster Führung ist allerdings nicht linear, sondern wirkt vielschichtig. Als Erstes muss ich wissen, was Vielfalt in meinem Betrieb überhaupt bedeutet. Wir haben zum Beispiel keine zehn verschiedenen Nationalitäten, sind aber trotzdem unglaublich vielfältig. Und zwar in Bezug auf die Altersstruktur, die Mentalität, die Gedankenwelt, die fachlichen Stärken und Schwächen. Dann überlege ich mir: Wen setze ich wann und wie ein? Manche laufen unter Termindruck zur Höchstform auf, andere haben deswegen schlaflose Nächte. Das muss ich im Blick haben und individuell angepasste Lösungen finden. Das kann ich aber nur dann, wenn ich die unterschiedlichen Blickwinkel, Fähigkeiten und Bedürfnisse meiner Mitarbeiter kenne. Die Art der Führung ist also, neben der Strategie, mitverantwortlich für den Unternehmenserfolg.

Sie selbst sind ja auch „anders“ als viele Ihrer Kollegen in der Baubranche. Ist eine weibliche Geschäftsführerin in Ihrem Gewerk immer noch exotisch?

Ich denke schon. Ich habe damals auch wirklich lange überlegt, ob ich es übernehmen soll. Es ist schon eine ziemliche Herausforderung, als Frau in einer „Männerbranche“ einen Betrieb zu führen. Man muss da sicherlich eine gewisse Resilienz entwickeln.

Wie waren Ihre ersten Jahre als Chefin?

Die waren nicht einfach. Ich musste mir den Respekt und die Autorität erst hart erarbeiten. Das hat bestimmt sechs bis sieben Jahre gedauert. Ich war damals Anfang 30 und wollte sofort die ganze Welt verändern. Ich musste dann aber feststellen, dass das leider nicht so einfach geht. Trotzdem sah und sehe ich es als meine Berufung. Auch wenn sich mein Großvater gewünscht hat, dass hier mein Bruder sitzt. Dazu kam es aber nicht. Jetzt bin ich hier und ich merke, dass mein Führungsstil das Unternehmen nach 65 eher patriarchalisch geführten Jahren positiv verändert hat. Es wird mehr gelacht, mehr miteinander geredet und sich ausgetauscht. Der Umgangston hat sich auch verbessert. Man sagt ja den Frauen nach, dass sie kommunikativer und empathischer sind und dass ihr Führungsstil häufig partnerschaftlicher ist. Ich glaube, das trifft auf mich zu. Das hat bei uns schon etwas verändert. Größer gedacht, kann ich damit ja vielleicht auch dazu beitragen, einen neuen Wind in die Baubranche zu bringen. Das treibt mich an und dafür engagiere ich mich auch außerhalb des Betriebs.

Denken Sie, dass Sie durch Ihre eigenen Erfahrungen als „Minderheit“ in der Baubranche einen anderen Blick auf die vielfältigen Blickwinkel, Fähigkeiten und individuellen Bedürfnisse Ihrer Mitarbeiter haben als zum Beispiel ein männlicher Chef?

Ja, ich denke schon. Ich habe grundsätzlich immer eine ganzheitliche Perspektive und sehe auch meine Mitarbeiter so. Bekomme ich zum Beispiel in einem der zahlreichen Gespräche, die ich mit meinen Beschäftigten führe, mit, dass jemand aus privaten Gründen momentan ein bisschen abgelenkt ist, dann frage ich auch direkt nach. Ich weiß nicht, ob meine männlichen Kollegen das auch so machen. Grundsätzlich sehe ich jeden Menschen als lernfähig und begegne ihm mit Vertrauen, Respekt und Wertschätzung. Und das erwarte ich genauso von meinen Mitarbeitern.

Sie beschreiben Ihren Führungsstil als sehr empathisch. Ist es auch mal schwierig, das tagtäglich umzusetzen?

Ja, das führt auch manchmal zu Enttäuschungen. Als ein langjähriger Mitarbeiter vor ein paar Wochen gekündigt hat, war ich am Boden zerstört. Das hatte ich überhaupt nicht kommen sehen. Ich habe das dann auch gleich auf mich projiziert und mich gefragt, was ich falsch gemacht habe. Vielleicht ist das eine Schwäche meines Stils. Das sind aber auch Erfahrungen, die zur persönlichen Entwicklung dazugehören.

Ein anderes Thema der Personalführung ist die Teamund Mitarbeiterentwicklung. Wie erkennen Sie die Stärken und Schwächen Ihrer Beschäftigten?

Durch Gespräche, Beobachten und Reflexion. Ich glaube, Führungskräfte brauchen eine gute Wahrnehmungsfähigkeit, um die vielfältigen Talente von Mitarbeitern zu erkennen und fördern zu können. Nehmen wir das Beispiel der Baustelle: Da erfahre ich viel, wenn ich auf das Engagement bei der Arbeit achte. Da sehe ich sogar beim Betonmischen Unterschiede. Außerdem spitze ich die Ohren. Wenn ich höre, dass jemand interessiert zielführende Fragen an den Bauleiter stellt, dann kann man da schon viel rauslesen. Nehme ich hingegen unsere leitenden Angestellten in den Fokus, dann geht es dort weniger um die Fachkompetenz. Auf die kann ich mich einfach verlassen. Schwächen sehe ich hingegen noch bei den eher weicheren Faktoren wie der Sozialkompetenz. Deshalb habe ich zuletzt auch ein paar Leute auf ein Seminar geschickt, um ihre Kommunikationsfähigkeit zu verbessern. Letztendlich muss ich erkennen, was jeder einzelne braucht, damit er bestmöglich zum Erreichen der Unternehmensziele beitragen kann.

Heißt vielfaltsbewusste Führung also Individualisierung?

In gewisser Weise schon. Will ich meine Beschäftigten weiterentwickeln, muss ich wissen, welche Maßnahmen erfolgversprechend sind. Bei einem Mitarbeiter weiß ich zum Beispiel, dass er viel Feedback braucht. Mit ihm muss man häufiger das Gespräch suchen als mit anderen. Gleichzeitig muss man aber auch wieder aufpassen, dass sich niemand benachteiligt und auf den Schlips getreten fühlt. Das ist ein nicht aufzulö- sendes Spannungsfeld, in dem man sich da bewegt.

Wie hilft Ihnen die beschriebene Sensibilität für die vielfältigen Blickwinkel, Fähigkeiten und Bedürfnisse einzelner Mitarbeiter bei der Teamzusammensetzung?

Sie müssen auf der einen Seite wissen, wer mit wem kann, und gleichzeitig überlegen, welche Kompetenzen sich gegenseitig ergänzen. Für den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens ist das enorm wichtig.

Was braucht es, um vielfaltsbewusst führen zu können?

Die Fähigkeit zur Selbstreflexion ist der Schlüssel. Wer in der Lage ist, sich selbst zu führen, sein eigenes Handeln zu hinterfragen, und sich weiterentwickeln will, kann sich auch auf die individuellen Bedürfnisse von Beschäftigten, Kunden und Bewerber einstellen. Vielfalt ist schließlich ein Querschnittsthema. Von einem bewussten Umgang damit kann ich demnach an den verschiedensten Stellen im Unternehmen profitieren.

Frau Kramer, vielen Dank für das Gespräch.

Take Away

  • Wertschätzende Führung schafft Zufriedenheit und zufriedene Mitarbeiter sind produktiver. Vielfaltsbewusste Führung ist Teil der Erfolgsverantwortung.– Selbstführung ist entscheidend, damit man sich selbst kontinuierlich weiterentwickelt. So kann auf die individuellen Bedürfnisse von Beschäftigten, Kunden und Bewerbern besser eingegangen werden (= Erfolgsbasis).
  • Ein vielfaltsbewusster Führungsstil wirkt auf die Unternehmenskultur. So können Veränderungen auch in lange gewachsenen Strukturen gestaltet werden.
  • Kommunikation ist entscheidend, damit Potenziale erkannt und so Teams und Mitarbeiter weiterentwickelt werden.