Eine kleine Geschichte der Hörinformation für blinde Menschen

Eine kleine Geschichte der Hörinformation für blinde Menschen

Gedrucktes hören können ist seit jeher der zentrale Wunsch blinder und stark sehbehinderter Menschen, wenn es um Informationsbeschaffung geht.

Holzminden/Niedersachsen – Mai 1976. Hans-Dieter Seiler startet durch. Eben ist er zum Vorsitzenden der „Aktion Tonband-Zeitung für Blinde“ gewählt worden, die große Ziele hat. Seit vier Jahren hat eine Gruppe Jugendlicher jede Woche Lokalnachrichten aus der Zeitung auf Tonband gelesen, jetzt wird dieses Angebot überregional ausgedehnt. Eine Kopier- und Versandzentrale für Hörmedien wird eingerichtet, und nicht nur Zeitungen soll es dort geben. Erstmals kann man auch ein Lexikon hören: Das Mieterlexikon des Deutschen Mieterbundes – aufgesprochen auf fünf Audiokassetten mit zehn Stunden Spielzeit.

Auf dem damals noch „innovativen“ Medium Kassette einen bestimmten Beitrag zu finden, kostete jedoch Zeit und Nerven. Das Thema „Barrierefreie Information“ steckte noch in den Kinderschuhen. Gleichwohl nutzten zahlreiche blinde Menschen die Möglichkeit, sich selbst ohne Hilfe Sehender informieren zu können.

Das Hörbuch im heutigen Sinne hatte die Welt damals noch nicht auf der Agenda. Doch blinde Menschen kannten es bereits. Spezielle Hörbüchereien für ihre Bedürfnisse gab es bereits seit den 50er Jahren. Quasi als öffentliche Bibliotheken machen sie noch heute den blinden Menschen wenigstens die wichtigsten Werke aus der Bücherflut zugänglich. Professionelle Sprecherinnen und Sprecher lesen hier vor allem literarische Werke, die anfangs auf Schallplatte oder Spulentonband verschickt wurden.

Stets können sich blinde Menschen darauf verlassen, von ihren Hörbüchereien komplette Aufsprachen ihrer Bücher zu erhalten – keine „autorisierten Lesefassungen“, sprich Kurzversionen. Günter Grass’ Roman „Der Butt“ kam als stattliches Paket aus 15 Kassetten ins Haus. Die hörte man eine nach der anderen – und wenn man eine Pause brauchte, wartete die Kassette geduldig an der richtigen Stelle, bis man wieder Zeit für sie hatte. Mehr Komfort verlangte niemand.

Gedrucktes hören können ist seit jeher der zentrale Wunsch blinder und stark sehbehinderter Menschen, wenn es um Informationsbeschaffung geht. Das geht weit über den Bereich der Belletristik hinaus: Zeitschriften, Sachbücher, aber auch der private Kontoauszug sind in der üblichen Form nicht zugänglich, wenn man nicht sehen kann.

Bevor die „digitale Revolution“ vielfältige Fortschritte brachte, organisierten die Vereine der Selbsthilfe ihre eigenen Informationskanäle. Vielerorts entstanden lokale Hörzeitungen, denn das örtliche Geschehen war nicht einmal im Radio zu erfahren. Ehrenamtliche Redaktionsteams wählten das Wichtigste einer Woche aus der lokalen Tagespresse und sprachen es als akustischen Pressespiegel auf Band. Kassetten-Kopiergeräte ließ man sich spenden, oder man nahm die Dienste überregionaler Dienstleister in Anspruch.

Auf ähnliche Weise gelangten auch einige Zeitschriften auf Audiokassetten zu ihren Hörern: Texte aus Spiegel, Zeit oder GEO, thematisch gebundene Zeitschriften zu ganz unterschiedlichen Themen. Die Blinden- und Sehbehindertenverbände informierten ihre Mitglieder mit akustischen Zeitungen – oft bis hinunter in die örtlichen Vereinsgliederungen.

Das Verfahren war preiswert: Kassetten konnten immer wieder neu bespielt werden; sie wurden in speziellen Verpackungen mit vorgedruckten Wendeadresskarten hinund hergeschickt. Eine international vereinbarte Portofreiheit für „Blindensendungen“ half zusätzlich. So konnten auch sehr kleine Benutzergruppen in den Genuss ihrer eigenen Hörzeitung kommen.

Auf diesen Wegen konnte ein kleiner Teil gedruckter Informationen akustisch umgesetzt werden, doch mancher Hörer tat sich schwer damit, dass andere für ihn die Auswahl trafen. „Barrierefrei“ wurde Information dadurch noch lange nicht. Schon die Benutzung der Kassetten hatte ihre Tücken. Zwar konnte man sie wie eine Radiosendung von vorn bis hinten hören – aber wenn man gezielt nur bestimmte Texte hören wollte, wurde es schwierig. Signaltöne und Sprecherwechsel, die im schnellen Vorlauf zu vernehmen waren, sollten helfen, vergrößerten aber zugleich den Aufwand bei der Herstellung.

Eine Informationsbroschüre für Seniorinnen und Senioren aus Berlin-Spandau mit ausführlichem Adressenteil auf Kassette? Es hätte wohl damals, vor der jüngsten Jahrhundertwende, kaum jemand auch nur einen Gedanken daran verschwendet. Und doch erfüllte die „alte“ analoge Technik ihren Zweck. Sie machte es auch möglich, zitierfähige Aufsprachen von Fachliteratur zu archivieren, die Studierende zur Erstellung ihrer Facharbeiten nutzen konnten, und zwar deutlich einfacher, als es durch Abschriften in der tastbaren Braille-Schrift möglich gewesen wäre.

Digital wird alles besser? Die Compact-Disc, kurz CD, wurde schon 1982 auf dem deutschen Markt eingeführt, war aber für den hier beschriebenen Einsatzbereich völlig ungeeignet: Zu kurze Aufzeichnungszeit, unwirtschaftlich bei kleinen Auflagen; und digitale Tonaufzeichnung war professionellen Studios vorbehalten. Bis digitale Medien für Hörinformationen in Deutschland eine Alternative zur Kassette wurden, sollten noch mehr als zwei Jahrzehnte vergehen.