Strukturelle Orientierungssysteme (SOS) – Modell für ein barrierefreies Stadtentwicklungskonzept

Nadine Metlitzky

’Barrierefreies Bauen’ ist kein Design-Trend, sondern eine städtebauliche Gesamtaufgabe.

Städtebauliche Entwicklungen werden nahezu immer von gesellschaftspolitischen Veränderungen oder maßgeblichen Veränderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens initiiert. Ein Blick auf die bekannten Alterspyramiden und die daraus resultierenden Prognosen zeigt deutlich den Wandel unserer Bevölkerungsanteile. In der bereits beginnenden Zukunft werden der überwiegende Anteil unserer Bevölkerung ältere Menschen sein. Aufgrund dieser Tatsache wird sich das gesellschaftliche Zusammenleben grundsätzlich ändern. Der am stärksten vertretene Bevölkerungsanteil wird die Gestaltung unserer baulichen Umwelt und somit des urbanen Raums prägen und maßgeblich bestimmen.

Wir vom Factus 2 Institut® fragen uns: Wie müssen Städte gestaltet sein, in denen Menschen länger leben und älter werden als jemals zuvor?
Die Gestaltung des urbanen Raums war im vergangenen Jahrzehnt von einem Bauplanungsrecht dominiert, welches eine expandierende Bevölkerungsentwicklung zugrunde legt. Die Tatsache, dass die demografische Entwicklung einen anderen Verlauf nimmt, wurde bisher zu wenig oder gar nicht berücksichtigt.

Stadtplanungskonzepte sind häufig starr und so langfristig angelegt, dass die in der Realisierungsphase stattfindenden Veränderungen die Ziele der bisherigen Konzepte in Frage stellen und teilweise sogar negieren.

So stehen die immer kleiner werdenden Handlungsspielräume der Kommunen den wachsenden Bedürfnissen der sich wandelnden Bevölkerungsstruktur konträr entgegen. Die ausgedehnten Stadtperipherien mit ihren unwirtschaftlichen Flächenausdehnungen und den daraus resultierenden Aufwendungen für Infrastrukturen werden wir uns in Zukunft kaum mehr leisten können. Künftig werden wir gezwungen sein, uns auf verdichtete Städte bzw. auf Kernstädte mit hoher Wohnqualität und verdichteten Bebauungen zu konzentrieren.

Die Vorteile einer Kernstadt sind die optimale Vernetzung der infrastrukturellen Schwerpunkte, der Fußläufigkeit und kurzen Wege (Erreichbarkeit), klare Orientierungen, Mischnutzungen (Wohnen und Arbeiten), kulturelle Höhepunkte (Museen, Theater) und die Mischung unterschiedlicher Generationen. Gleichzeitig kann durch die Verkernung die Attraktivität der Stadt und damit die Identifikation der Bevölkerung mit ihrer Stadt gesteigert werden. Eine barrierefreie Gestaltung der Infrastruktur ist daher auch ein Mittel zur positiven Prägung des Charakters einer Stadt.

Bei unseren Überlegungen zu einem barrierefreien Stadtentwicklungskonzept stützten wir uns auf die Beobachtung, die wir bei der Analyse von stadträumlichen Entwicklungen machten. Wir erkannten, dass die vorhandenen starren, unbeweglichen Elemente (Gebäude, Plätze, Straßen) einer Stadt genauso in unsere Überlegungen mit einzubeziehen sind wie die beweglichen Elemente einer Stadt. (Als ‚bewegliche Elemente’ werden insbesondere die Bewohner und deren Mobilität aufgrund der täglichen Verrichtungen wie Arbeiten, Konsumieren, Bewegen usw. betrachtet.) Die Grundlage eines barrierefreien Stadtmodells ist eine symbiotische Betrachtung der tatsächlich vorhandenen Stadt und des heutigen bzw. des zukünftigen (Stadt-)Bewohnerprofils.

Aus diesen Vorüberlegungen entwickelten wir das Modell: ‚Strukturelle Orientierungssysteme’. Dieses Modell sieht die Stadt nicht als starres, monolithisches Konstrukt, sondern versucht die Stadt aus dem Blickwinkel zu sehen, wie sie von ihren Einwohnern wahrgenommen wird.

Die Schlussfolgerungen aus den bekannten Bevölkerungsprognosen zeigen, dass das Anforderungsprofil der Bevölkerungsmehrheit sich erstens auf die Erreichung wesentlicher (täglicher) Ziele (Wohnen, Arbeiten, medizinische Versorgung, Dienstleistung und Kultur) als Hauptanforderung konzentriert. Und zweitens, dass diese Ziele überwiegend fußläufig oder mit Gemeinschaftstransportmitteln – aber im Wesentlichen fußläufig – erreicht werden müssen. Die räumlichen Entfernungen zwischen einem Start- und einem Zielpunkt sind für die Bewohner ein wesentliches Kriterium für ihre persönliche Lebensqualität. Für diese individuelle Mobilität innerhalb des urbanen Raums ist die Kombination aus verschiedenen Fortbewegungs-/Mobilitätsarten oder die reine fußläufige Erreichbarkeit notwendig. Für eine barrierefreie Stadtgestaltung hingegen sind die Länge und die Beschaffenheit der fußläufigen Strecken primär entscheidend. Die Entfernung, welche mit einem Verkehrsmittel absolviert wird, ist für die städtebauliche Barrierefreiheit von nachrangiger Bedeutung, da hierbei lediglich das Ein- und Aussteigen Barrieren darstellen kann. Eine barrierefreie Stadtplanung hat daher die Optimierung der vorhandenen Wegebeziehungen wie auch der Orientierung im urbanen Raum zum Ziel. Vergleicht man die Stadt mit einem komplexen, geordneten System hängt die Funktionalität dieses Systems immer entscheidend davon ab, wie sich der Nutzer hier orientieren kann. Beim Prozess des ‚Sich-zurechtfindens’ – des ‚Sich-orientierens’ besteht das strategische Hilfsmittel in der Vorstellung von der Umgebung, welches sich der Nutzer von der äußeren Welt macht. Nur wenn ein deutliches Bild von der Umwelt (urbanem Raum) besteht, ist es dem Nutzer möglich, sich in dem System sicher, effektiv und schnell umherzubewegen. Unterstützend wirken hierbei Faktoren wie visuelle Aspekte (Farbe, Form und Licht von Objekten/Gebäuden), Aspekte wie Geräusche oder Gerüche, Wegweiser wie Beschilderung, Zeichen und andere Markierungen und nicht zuletzt die Anwesenheit anderer Menschen. Diese Betrachtungen ließen uns zu dem Schluss kommen, dass in einem neuen, barrierefreien Städtebaumodell das Wegesystem und die Orientierung innerhalb des Gefüges ‚Stadt’ für den Nutzer optimiert werden muss. Dass dies die Anforderung an die Stadt- bzw. Architekturqualität ‚Bauliche Barrierefreiheit’ mit einschließt, versteht sich von selbst.

Das Factus 2 Institut® hat vorhandene Stadtgrundrisse analysiert und festgestellt, dass sich aus Sicht des Bewohners jeder Stadtraum in Quartiere (Orientierungssektoren) gliedert. Innerhalb dieses Orientierungssektors dienen exponierte, prägnante Bauwerke als Orientierungshilfe (Orientierungspunkte). Eine solche Aufgliederung der urbanen Struktur in Orientierungseinheiten ist auf jeden vorhandenen urbanen Raum übertragbar, da sie alle charakteristischen Gegebenheiten der betrachteten Stadt mit einbezieht, wie z.B. topografische Gegebenheiten und Plätze, markante bauliche Anlagen, wie z.B. Brücken und Denkmäler.

Diese Orientierungssektoren gliedern das Stadtgebiet, den urbanen Raum, in (Orientierungs-Einheiten – nicht unbedingt administrative Einheiten - auf. Die Orientierungssektoren können, wenn es die Flächenausdehnung erfordert, in kleinere Einheiten bis hin zu Stadtbausteinen unterteilt werden. Dies sind beispielsweise Stadtzentren und Stadtringe, Oberstädte und Unterstädte. Die Trennung der Orientierungssektoren erfolgt folgerichtig durch markante bauliche Strukturen wie Stadtmauern, Bahnlinien, Straßen, Wege, öffentliche Plätze sowie auch topografische Besonderheiten, wie Flüsse, Hügel oder Berge.

Innerhalb der Orientierungssektoren kennzeichnen zusätzlich Orientierungspunkte das ‚Strukturelle Orientierungssystem’. Sogenannte Indikatoren (Orientierungspunkte) sind besondere Bauwerke, die sich von ihrer Umgebung wesentlich unterscheiden. Dies können öffentliche Gebäude, Kirchen, Türme, Schulen oder auch öffentliche Plätze sein.

Öffentlichen Plätzen kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu, da diese in beiden Orientierungsstrukturen zentrale Merkmale sein können. Orientierungspunkte sind alle baulichen Anlagen, die sich wesentlich von ihrer Umgebung in Art, Größe und Gestaltung unterscheiden. An den Angrenzungen der verschiedenen Orientierungssektoren entstehen Übergabebereiche, welche auch idealerweise durch Orientierungspunkte besonders gekennzeichnet sind. Ein Übergabebereich zeichnet sich zumeist durch das Aneinandergrenzen von mindestens drei Orientierungssektoren aus. An diesen Orten sind Entscheidungen zum Wechsel der Sektoren, Richtungsänderungen und Mobilitätsformen zu treffen. Die barrierefreie Ausbildung eines Übergabebereichs ist folglich entscheidend für die Nutzung des urbanen Raums. Das Fehlen oder ein schlecht ausgebauter Übergabebereich kann Übergabebereich Orientierungspunkt Orientierungssektor 14 Raum für Alle – Marktchancen für kleine und mittlere Unternehmen die Orientierung in dem Orientierungssektor erschweren oder sogar verhindern. Dies hat zur Folge, dass diese Bereiche für die fußläufige Erschließung unbrauchbar sind. Die Entscheidungen zur Orientierung, zum Richtungswechsel und zur Wahl des Mobilitätsmittels, welche in Übergabebereichen vom Fußgänger getroffen werden müssen, basieren auf Sichtbeziehungen, Leitfunktion und Informationsvermittlung, die an diesem Ort im Besonderen vorhanden sein müssen. Innerhalb eines Orientierungspunktes müssen Wegebeziehungen erkennbar sein, die zum einen für das Auffinden des Ziels oder des Zwischenziels erforderlich sind und zum anderen erkennbar werden lassen, ob Richtungswechsel notwendig sind.
Als notwendige Leitfunktionen wird die Informationsvermittlung mittels Wegweiser, Straßenbeschilderungen, bodengebundenem Leitsystem o. ä. bezeichnet. Für die Stadtplanung bedeutet dies, dass in Übergabebereichen sektorenübergreifende, einheitliche bzw. sich ergänzende Leitsysteme installiert sein müssen. Zur Bündelung der Funktionen sind in Übergabebereichen die Anbindungen wie Bus- und Straßenbahnhaltestellen, Bahn- und U-Bahnzugänge, Taxistände u. ä. angeordnet. Auch die Anbindung der Flächen des ruhenden Verkehrs ist zu berücksichtigen. Der Übergabebereich selbst zeichnet sich durch kurze Wege zwischen den unterschiedlichen Anbindungen des Verkehrs aus. Die Orientierungssektoren, die Orientierungspunkte und die Übergabebereiche sind daher die drei wesentlichen Bestandteile des strukturellen Orientierungssystems. Innerhalb des Orientierungssektors kann das System noch weiter optimiert werden, indem in Querungsstellen oder in Kreuzungspunkten Übergabepunkte definiert werden. In Übergabepunkten werden ebenfalls Entscheidungen zur Orientierung, zum Richtungswechsel und zur Mobilitätsart getroffen. Im Gegensatz Abb.4 Orientierungssektoren, Orientierungspunkte zu den Übergabebereichen liegen Übergabepunkte auch innerhalb von Orientierungssektoren. Diese sind als Bindeglied zu den Kreuzungspunkten innerhalb der Orientierungssektoren zu verstehen. Das Anforderungsprofil an Übergabepunkte stellt das reduzierte Profil der Übergabebereiche dar. So kann die Veränderung eines Kreuzungsbereichs bereits mittels Bordabsenkung, bodengebundener Leitsysteme o. ä. die Kreuzung zu einem Übergabepunkt qualifizieren. Andere Übergabebereiche müssen mit weiteren Elementen wie beispielsweise Wegweisern, Ampeln mit Taktsignalgeber oder taktilen Informationen, Bodenindikatoren ausgestattet sein, da sie in direkter Beziehung zu ihren benachbarten Übergabebereichen und -punkten stehen. Die notwendigen Ausbaustufen eines Übergabepunktes sind im Kontext mit den Zielen des strukturellen Orientierungssystems abzuwägen.

Nur die Übergabebereiche in Verbindung mit Übergabepunkten bilden ein funktionierendes Netzwerk für eine barrierefreie Mobilität.

Das Prinzip jeder Stadtplanung ist die konzeptionelle Entwicklung des urbanen Raums, wobei die stadtteilbezogenen Nutzungen und die verkehrsräumliche Erschließung vorgegeben werden.

Im übertragenen Sinn ist Stadtplanung als Ordnungsprinzip für eine nachhaltige urbane Entwicklung im Makrobereich zu verstehen. Somit übernimmt die Stadtplanung die übergeordnete Stadtentwicklung und bestimmt so beispielsweise die Lage von Bebauungen, Wegen und Freiräumen, welche später im Mikrobereich im Detail ausgestaltet werden. Das heißt, Stadtplanung bezeichnet in der Regel eine zweidimensionale Umsetzung raumordnerischer Vorstellungen, um Flächen für unterschiedliche Nutzungen unter funktionalen Gesichtspunkten zueinander zu ordnen. Das Ergebnis Abb.5b Städtebau wird meist als Flächennutzungsplan dargestellt. Der Städtebau an sich ist bereits die dreidimensionale Umsetzung der raumordnerischen Vorstellungen der Stadtplanung. Die Berücksichtigung des zuvor definierten ‚Strukturellen Orientierungssystems’ muss daher bereits ein fester Bestandteil der zukünftigen Bauleitplanung sein. Nur so kann der erforderliche Verkernungsprozess in Städten die barrierefreie Stadtentwicklung integrieren. Dies umfasst nicht nur Orientierungssysteme, welche durch Beschilderungen schon vielfach vorhanden sind, sondern auch Systeme, welche auf intuitive, das heißt durch die Bauwerke selbsterklärende Art, Zeichen setzen. Wie ein Flusslauf, eine Stadtmauer oder andere bauliche Strukturen, die bereichsbegrenzende Funktionen übernehmen können, muss innerhalb dieser Bereiche ein Orientierungssystem vorhanden sein.

Fazit

Das Modell ‚Strukturelle Orientierungssysteme’ ist auf jede vorhandene urbane Struktur übertragbar. So können schnell und effizient stadträumliche Defizite und die damit verbundenen Entwicklungspotenziale herausgearbeitet werden. Die so gewonnenen Erkenntnisse über bestehende Orientierungssysteme liefern wertvolle Basisdaten, um eine geordnete barrierefreie, städtebauliche Entwicklung einzuleiten. Die einzelnen Elemente, aus denen sich das ‚Strukturelle Orientierungssystem’ zusammensetzt, müssen nicht neu erfunden werden, sie sind im Wesentlichen in jeder Stadt vorhanden – sie müssen nur verknüpft und ergänzt werden.

‚Strukturelle Orientierungssysteme’ bieten als Städtebaumodell für die Zukunft die Möglichkeit, für eine immer älter werdende Bevölkerung Städte zu strukturieren und ggf. neu zu ordnen, in denen jeder alt werden kann.

Nadine Metlizky, Lutz Engelhardt
Barrierefrei Städte Bauen
Fraunhofer IRB Verlag Stuttgart 2008
ISBN 978-3-8167-7653-6

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