Die Startup- und Tech-Branche geizte noch nie, wenn es um große Ankündigungen ging. Nicht selten haben neue Technologien das Potenzial, die Welt zu verändern. Zumindest aus der Sicht führender Protagonisten der Industrie. Das Epizentrum dieser Entwicklung ist spätestens seit den 1970er Jahren das Silicon Valley. 1977 wurde mit der Einführung des Apple II das Zeitalter des Personal Computers ausgerufen. Der US-amerikanische Philosoph und Informationstechnikpionier Theodor Holm Nelson bewertete die Situation damals wie folgt: „Die kleinen Computer […] werden ebenso radikale Veränderungen in der Gesellschaft bewirken wie das Telefon und das Auto.“
Eindrückliche Vorhersagen waren seit 2022 auch rund um die Verbreitung von Anwendungen im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) zu lesen und zu hören: Der CEO von Google, Sundar Picai, prognostiziert, dass KI eine wichtigere Erfindung für die Menschheit werden könnte als Feuer oder Elektrizität. Interessant bei vielen der Prognosen sind nicht selten Hinweise, die den Zeithorizont zum Handeln vorgeben. Woher kommt dieser Imperativ? Es ist naheliegend, die Logik von Venture-Capital-Investitionen hier als mögliche Ursache anzuführen. Rasche Wertsteigerungen für Geldgebende und Stakeholder dominieren das Geschehen. Die Revolution muss schnell erfolgen. Besser heute als morgen!
Storytelling – Erziehen statt Vermarkten
Das Verhalten der Konsumenten über „Storytelling“, also das Geschichtenerzählen, zu beeinflussen, kann als eine Art Königsdisziplin der Tech-Branche gesehen werden. Es beginnt im Kleinen bei Präsentationen angehender Start-ups vor einem ausgewählten Kreis Investierender und reicht bis hin zu den großen Kampagnen etablierter Tech-Konzerne.
Das Ziel der Öffentlichkeitsarbeit geht dabei über eine reine Steigerung der Nachfrage für die beworbenen Produkte und Dienstleistungen hinaus: „PR was an educational process, not a promotional process“, so Regis Mc Kenna, der im Silicon Valley den Status eines Marketing-Gurus innehat. Frei interpretiert geht es also um die Vermittlung von handlungsprägenden Werten, die mit der Nutzung neuer Technologien in Verbindung stehen: Die Begriffe Freiheit, Kreativität und Revolution bilden hier die Leitplanken.
In der Retrospektive kehren sich derartige Versprechen teilweise ins Gegenteil um, wie das Beispiel des Werbespots zum Erscheinen des Apple Macintosh aus dem Jahr 1984 zeigt: Dieser wurde während des Super Bowl XVIII ausgestrahlt und bewarb den Apple Macintosh – angelehnt an den gleichnamigen Roman von George Orwell – als Instrument für den Weg in ein selbstbestimmtes Leben.
Mit der damals neuen Technologie könnte man sozusagen der Überwachung entkommen und die eigene Kreativität frei entfalten, so die Botschaft des Clips.
40 Jahre später zeigt sich, dass Konsumenten mittlerweile mehr oder weniger freiwillig den großen Konzernen Informationen über persönliche Wünsche und Bedürfnisse zur Verfügung stellen. Die Haltung gegenüber Technologien ist also im ständigen Wandel und somit sind es auch die damit einhergehenden Verhaltensweisen. Dieser Prozess des Haltungswandels wird sich auch im Falle künstlicher Intelligenz vollziehen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Haltung gegenüber KI derzeit in der Gesellschaft eigentlich vorzufinden ist.
KI als Werkzeug
Künstlicher Intelligenz wird seit dem Aufkommen generativer Sprachmodelle im November 2022 eine immense gesellschaftliche Sprengkraft zugeschrieben, auch durch die weiteren Anwendungen für die Bild- und Videoerstellung oder Softwareentwicklung, die seitdem veröffentlicht wurden. Von dystopischen Zuständen bis hin zur Lösung fast aller menschlichen Probleme scheint derzeit fast alles möglich. Im gesellschaftlichen Diskurs ist man aktuell sehr darum bemüht, eine konstruktive Ebene der Anwendung zu finden. Durch das im März 2024 vom Europäischen Parlament verabschiedete KI-Gesetz wurde recht zügig ein rechtlicher Rahmen geschaffen. Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang von besonderer Relevanz: KI sollte als Werkzeug angesehen werden, das für bestimmte Einsatzzwecke funktioniert und für andere nicht. Ein weiterer wichtiger Aspekt bei der Anwendung von KI ist, dass diejenigen, die am Ende handeln, eben Menschen, Organisationen oder Staaten sind – nicht die Technologie selbst. Das setzt Kontrolle voraus. Neben Gesetzen benötigt es hierfür auch fachliche Kompetenzen.
Unter falscher Flagge auf dem Kreuzzug ins Glück?
Künstliche Intelligenz hat sich zu einem Signalwort entwickelt, das inflationär verwendet wird, um Investierende und Stakeholder von der Zukunftsfähigkeit der eigenen Technologie zu überzeugen. Die Erwartungen in den Bereichen Informatik, Verwaltung, Medizin, Kunst, Mobilität und Bildung sind riesig. Aktuell segelt allerdings fast alles, was mit Computern zu tun hat, ob Digitalisierung, Algorithmen oder Software, unter der Flagge „KI“. Die Prognosen sind dabei mehr als vielversprechend: Der KI-Markt soll bis 2027 auf mehr als 400 Milliarden US-Dollar Umsatz weltweit wachsen. 64 Prozent der Unternehmen erwarten, dass KI die Produktivität steigert. Prognosen zufolge kann das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland allein durch KI bis zum Jahr 2030 um 11,3 Prozentpunkte steigen. Das entspricht einer Wertschöpfung von rund 430 Milliarden Euro. Im Jahr 2023 hat man davon noch nichts gemerkt, denn die Bruttowertschöpfung ist laut dem Statistischem Bundesamt in diesem Zeitraum leicht zurückgegangen (-0,1 Prozent). Eine Steilvorlage für die bekannte Beobachtung des Nobelpreisträgers Robert Solow aus dem Jahr 1987: „You can see the computer age everywhere but in the productivity statistics.” Kurzfristige Prognosen sind durch längerfristige Perspektiven zu ersetzen. Erst dann werden sich die Potenziale vollends entfalten können.
Dieser Artikel ist bereits im RKW Magazin 1/2024 erschienen.
Literatur & Links
Forbes Advisor (2024): 36 Statistiken und Trends zum Thema Künstliche Intelligenz (KI). www.forbes.com (letzter Abruf: 26.03.2024).
Holzki, L. & Scheuer, S. (2024): Inside KI. Wie künstliche Intelligenz und ihre Pioniere unser Leben und Arbeiten revolutionieren, Freiburg: Verlag Herder.
O`Mara, M. (2019): The Code. Silicon Valley and the remaking of America, New York: Penguin Press.
Weizenbaum Institut (2024): Der Hype um Künstliche Intelligenz: „Kontrollverlust und Verantwortungsdiffusion“. www.weizenbaum-institut.de (letzter Abruf: 26.03.2024).
- © Ignatiev / Getty Images – Frau in Labor/vor Screen (3197_frau-in-labor-vor-screen.jpg)