Die Zukunft der Führung ist ungewiss
– welche Führungskompetenzen heute und morgen gefragt sind


René Wagener ist Director in People Advisory Services bei EY in der Change- und Organisationsberatung. Sein Weg führte vom Führungskräftetrainer für Malik Management über Porsche Consulting als Prozessberater in der Industrie bis zu weiteren Unternehmensberatungen. Er ist als systemischer Organisationsberater (Hephaistos) und Wirtschaftsmediator zertifiziert. Bevor er in die Beratung einstieg, hat er Jura und Organisationspsychologie studiert. Kontakt: rene.wagener(at)de.ey.com
Schon 2019 hat eine XING Studie ergeben, dass 50% der Befragten bereit wären, auf bis zu 25% Gehalt zu verzichten, wenn sie dafür einen Job hätten, der sie mit Blick auf ihren persönlichen Sinn mehr anspricht. Viele Menschen wagen aktuell Schritte in Selbständigkeit oder Jobwechsel, da sie die letzten 12 Monate vertieft nachdenken konnten und mussten. Das bedeutet für Führung: Die Erwartungen haben sich in kurzer Zeit verändert und sind nicht mehr nur abstrakter Dialog auf Podien unter Fachleuten.
Menschen verlangen Veränderungen in der Art zu führen und geführt zu werden. Und das ist kein abgehobenes, abstraktes Phänomen in einem anderen Land, sondern konkret und vor Ort in unserem Arbeitsleben. Es ist eine Veränderung hin zu Selbstführung und Selbstorganisation von Menschen, die vorher eingebettet in das Alltagsgeschäft weniger über ihr individuell berufliches Warum, Wozu, Wie und Was nachdenken konnten. Das Corona-bedingte „Zurückgeworfen sein“ auf sich selbst hat auch mehr Tiefgründigkeit in der Diskussion um organisationales Miteinander erzeugt.
Aber warum wird nach einer „anderen“ Qualität von Führung gesucht? Zwei Umstände zeichnen sich in den Change-Projekten ab, die ich begleite:
- Veränderungen aufgrund von Corona: Homeoffice, Führen auf Distanz und hybrides Arbeiten Was vor Corona im (sanften) Getöse des Arbeitsalltages unterging, drängt nun nach vorne: „Warum mache ich diese Arbeit eigentlich? Befriedigt sie mich?“ Menschen wurden einerseits „dünnhäutig“, im Sinne von „reizbar“, andererseits grübeln sie mehr als sonst und werden „gefühlig“. Darauf kann, muss und darf (!) Führung reagieren.
- Wertepluralismus und die Zusammenarbeit von Generationen Eine „andere“ Qualität der Führung und Zusammenarbeit wird schnell mit dem Wertewandel und den Generationen Y/Z (geboren ab 1980/1995) in Verbindung gebracht: Wenn der eine Mitarbeitende das „Wie“ seiner Arbeit an seinen (persönlichen) Werten ausrichtet, die denen anderer Mitarbeitenden widersprechen, dann bekommt dieser Konflikt - anders als beim abstrakten gesellschaftlichen Wertedialog - unmittelbare Relevanz.
Ich beobachte auch, dass diese Diversifizierung eher alters- und lebensphasenunabhängig als mit Generationenklassifizierungen (Babyboomer, X, Y, Z) zu fassen ist. Hinzu kommt: Diskussionen über individuellen oder unternehmerischen „Purpose“ führen kein Nischendasein mehr, sondern gehören zu einem (arbeitsgesellschaftlichen Diskurs unter dem Schlagwort „New Work“. In den Teams, mit denen ich arbeite, zeigt sich das dann so: „Es passt so nicht mehr, wie unsere Teamleiterin uns führt.“ oder „Ich erreiche meine Teammitglieder nicht mehr so wie vorher - ich habe das Gefühl, dass der echte Kontakt fehlt.
Dass zu diesem Zeitpunkt noch nicht benannt werden muss, was für eine „andere“ Art der Führung oder Zusammenarbeit das sein soll, entlastet viele. Klar ist aber: Führung soll über das Sachlogische hinausgehen und auf das reagieren, was „Corona in der Zusammenarbeit mit uns angestellt hat“. Auch daran kommt keine Führungskraft mehr vorbei, ob sie will oder nicht.
Gefolgschaft oder das „Sich-führen-lassen“ basiert auf einem psychologischen Vertrag (Argyris), der kaum offengelegt und schon gar nicht explizit verhandelt wird. Aber er wirkt bei allem, was einzelne Mitarbeitende im Berufsalltag tun und entscheiden – und auch, ob sie Führung zulassen oder nicht. Wird dieser Vertrag aus Sicht der Geführten schlecht erfüllt, wird er womöglich aufgekündigt.
Ein neues Zusammenarbeitssystem entsteht
Ich begleite Teams bei der Fragestellung „Wie wollen wir als Team miteinander arbeiten, führen und geführt werden?“ oft mit einer Workshop-Reihe. Zu einem „Soll“ der Zusammenarbeit kommen die Teams nicht, ohne dass alle ihr eigenes „Ist“ durchdenken und sich Meinungen darüber bilden, was sich in den letzten 12 Monaten individuell mit Blick auf Kompetenzen, Selbstführung und Motivation verändert hat. Ergebnis ist immer eine konkrete, neue Ausgestaltung von Führung und Zusammenarbeit bis auf die Detailebene – zusammengefasst in einem eigenen Modell, als Poster oder Canvas mit einem (knappen) Dutzend Themen und Vereinbarungen.
Die i-Frage als Beispiel für konkrete Techniken

Auf dem Weg zum neuen Zusammenarbeitssystem helfen einfache Praktiken, die über die Sachlogik hinausreichen. Eine davon ist die i-Fragetechnik: Halten Sie im Team in Momenten inne, in denen es knirscht oder Sie die Vermutung haben, dass es um mehr als das Ausgesprochene geht (positiv wie negativ). Fragen Sie – sich erst still selbst – und dann das Team: „Worüber informiert das?“
Dabei ist die Formulierung wichtig: „informiert“ anstelle von „bedeutet“. Damit wird eine Meta-Betrachtung der Situation ermöglicht, die es zulässt, Informationen zu bekommen, wie ich mich und die anderen im Team sich gerade selbst wahrnehmen. Es drängt sich sofort die Frage auf: „Was ist (es denn, worauf ich versuche, mit Informationen zu antworten)?“
Hier unterbreche ich ab und zu und fordere zum Spaziergang auf, um nur diese Frage – „Was ist?“ – zu beantworten. Erst dann folgt „Worüber informiert mich das?“ Die Formulierungen und Zerlegung in zwei Teile beeinflussen die Deutung der Situation und führen damit zu einer „anderen“ Qualität von Dialog.
Ein Beispiel:
Die Teamleiterin fragt, ob man sich im Team auf das „Du“ einigen soll: Eisiges Schweigen, obwohl alle wissen, dass das Thema schon kontrovers diskutiert wurde. Die Teamleiterin schwankt zwischen verdutzt und verärgert. Sie könnte das Thema jetzt begraben oder kritisieren: „Also, wissen Sie! Ich bekomme doch mit, dass alle darüber reden, und nun bekommen Sie die Zähne nicht auseinander?!“
Die Frage „Worüber informiert das?“ bringt aus Sicht der Teamleitung zutage: „Ich bin verdutzt. Offenbar hätte ich mit mehr Begeisterung gerechnet, dass ich als Teamleiterin den blauen Elefanten so souverän anspreche. Anstatt dessen treffe ich auf Schweigen. Ich sehe hier meine Führungsleistung wenig gewürdigt. Oh, dass so eine scheinbare Nicht-Würdigung mich anficht ist auch interessant. Warum wohl? Hm, ich bin etwas gereizt aus dem vorherigen Meeting. Ok, das hat nichts miteinander zu tun.“
Die Frage an das Team gestellt, kann hochinteressante Antworten liefern: Von „Ich finde das peinlich, mir geht das zu weit.“ bis „Ich merke, dass ich alle Hoffnung auf modernes Zusammenarbeiten hier aufgegeben habe.“. Klar wird dabei, dass Führung unterschiedlich reagieren kann und muss.
In diesem Sinne: Probieren Sie die i-Frage aus, die Reaktionen und Funde sind hoch spannend und ermöglichen Ihnen eine Führung, die über die Sachlogik und Alltagsaufgaben hinausgeht und Menschen in „echten Kontakt“ bringt. Genau das brauchen wir (wieder).
Mehr Antworten auf die Frage, welche Führungskompetenzen heute und morgen gefragt sind, erhalten Sie in einem RKW-Podcast mit René Wagner, der im Oktober veröffentlicht wird.