Patrick: Lieber Alex, wir haben mittlerweile ja einige Unternehmen gemeinsam begleitet, die ihr Geschäftsmodell weiterentwickeln oder neue Geschäfte integrieren wollten. Als Knackpunkt habe ich häufg die Frage empfunden, wie das Neue so mit dem Alten kombiniert werden kann, dass beides gedeiht. Im schlimmsten Fall leidet ja beides. Wie siehst Du das?

Alexander: Diese Vereinbarkeit scheint mir eine der wichtigsten Fragestellungen zu sein, die im ganzen Prozess durchgehend mitschwingt: Wie schaffen wir den Spagat zwischen ambitionierten, aber machbaren Zielen? Kein Wunder, sind die Ressourcen bei erfolgreichen Mittelständlern doch schon im operativen Geschäft mehr als gebunden. Umso verwunderlicher fnde ich, dass es beim Thema Geschäftsmodellentwicklung meist um die Entwicklung von möglichst innovativen Ideen geht, aber selten bis nie um des Pudels Kern.

Patrick: Ja, Spagat trifft es aus meiner Sicht sehr gut: Wer sich am Anschlussfähigen (oder Machbaren) orientiert, verliert das Sinnvolle (und mitunter Ambitionierte) aus den Augen – und wer sich zu einseitig an den ambitionierten Zielen orientiert, riskiert die Machbarkeit und die Unterstützung für die ambitionierten Pläne?! Und immer dann, wenn es zwei Seiten einer Medaille gibt, die sich einerseits ausschließen und die es andererseits beide braucht, riecht das für mich verdächtig nach Paradoxie. Und vor meinem inneren Auge erscheinen Niklas Luhmann, mit dem ich dich gerade nicht behelligen will, aber auch Herbert Zahnen von der Zahnen Technik GmbH mitsamt seines Führungskreises. Hier waren „ambitioniert“ und „machbar“ für mich nie ein Widerspruch. Alt und Neu waren in meiner Erinnerung dort immer sauber unterschieden und gleichzeitig eins… Was bleibt, ist meine Neugier, was Du mit „des Pudels Kern“ genau meinst.

Alexander: Die Bearbeitung von Stillständen. Anders als intuitiv anzunehmen, sind es nämlich genau sie, die erklärungsbedürftig sind – und nicht die Veränderungen, wenn sich das Morgen mehr oder minder einfach aus und neben dem Heute entwickelt. Nehmen wir mal das reale Beispiel zweier Möbelhersteller: Beide sind heute vor allem im B2B-Bereich über Zwischenhändler aktiv mit hochwertigen Produkten. Beide möchten zukünftig in einem Nischenmarkt auch Privatkunden ansprechen. Und beide haben dafür eine neue vielversprechende Produktpalette entwickelt, ein Marketingkonzept vorbereitet und stehen vor der knifigen Aufgabe, die Fertigung, Lagerung und den Versand von Kleinaufträgen in ihre bestehenden Serienproduktionsprozesse zu integrieren. Während in der einen Firma die Umsetzung glückt, unter hohem Einsatz und mit dem Preis, ihre Prozesse teils erheblich umstellen zu müssen, will dieser Schritt bei der anderen Firma nicht gelingen. Die Umsetzung stockt, verzögert sich und kommt nicht recht voran. Und damit landen wir bei der eigentlich interessanten Frage: Was passt hier (noch) nicht (zusammen)? Und diesen Punkt erleben wir erstaunlich häufg, wenngleich die Gründe dafür sehr unterschiedlich und vielschichtig sein können.

Patrick: Ok, damit kann ich viel anfangen. Wenn ich dich richtig verstehe, richtest Du die Blickrichtung hier nicht auf die Idee und – überspitzt formuliert – darauf, wie man das Neue nur recht ordentlich in das Bestehende hineinpresst, sondern darauf, was dem schönen, neuen Plan entgegensteht. Und da setzt sich ein kleines Teufelchen auf meine Schulter und sagt: „Na, ist doch klar, das Alte
natürlich!“


Auch wenn ich befürchte, dass mein Faible für das Denken in Paradoxien zu offensichtlich wird, lande ich unfreiwillig beim Innovationsparadoxon (siehe Abbildung) und einer Dynamik in Unternehmen, bei der sich die Vertreter der Innovation und die Verfechter des Bewährten teils verbitterte und meist verdeckte Kämpfe darüber liefern, ob das Heil im Aufruch zu neuen Ufern oder in der Pflege des Bestehenden liegt. Je lauter die einen, desto vehementer die anderen. In diesen Fällen hilft ja meist ein Dialog darüber, was für das eine und was für das andere spricht, eine Verständigung über unvermeidbare Preise der einen wie der anderen Seite der Entscheidung und ein Sich-in-Beziehung-setzen mit dem prinzipiell personenunabhängigen Muster. Ist ja eh erstaunlich, wie gerne Mitarbeiter Organisationsdynamiken persönlich nehmen (andersherum ist das kaum vorstellbar). Ist es dann am Ende wirklich so einfach?

Alexander: Was Du beschreibst ist ja nur ein mögliches Sandkorn im Umsetzungsgetriebe. Dass ein Teil der Belegschaft einem Wandel nicht begeistert gegenübersteht, ist erstmal wenig überraschend, zumal wenn dieser ambitioniert und mit hohem Aufwand und großen Unsicherheiten verbunden ist.

Nehmen wir wieder das Beispiel des Möbelherstellers: In diesem Fall ist Kommunikation ganz sicher hilfreich. Vielleicht wurde es aber auch versäumt, die notwendige Unterstützung zur Verfügung zu stellen, etwa bei der Anpassung der Prozesse, der Ressourcenausstattung oder der Infrastruktur. Mag sein, dass wir es nicht primär mit einer Frage der Einstellung oder der Unterstützung sondern mit einer Frage der Ziele selbst zu tun haben. Etwa wenn es nicht gelungen ist, sich an anderer Stelle von Zielen, Geschäftsfeldern oder Produkten zu verabschieden, die bestehenden Strukturen durch eine Make-or-Buy-Entscheidung zu entlasten oder ein passenderes Produkt zu wählen, das in den bestehenden Strukturen abbildbar ist

Die Gründe für das Ausbleiben eines passenden Bildes von morgen mögen vielleicht sogar jenseits der scheinbaren Sachprobleme in grundsätzlicheren Mustern begründet liegen: etwa bei einer Schwierigkeit des Geschäftsführers, gewachsene Traditionen und Produktfelder loszulassen, in ungelösten Interessenkonflikten im Führungsgremium oder problematischen Familiendynamiken. Das alles macht schon deutlich: Wo genau Problem und Hebel zu suchen sind, lässt sich nur im konkreten Einzelfall klären.

Patrick: Ich fnde, das ist ein schönes Schlusswort. Um es zum Abschluss noch etwas knackiger zu machen, hätte ich noch zwei Zuspitzungen in petto: Erstens hängen viele Umsetzungsprobleme daran, dass eine unpassende Lösung eben nur sehr schwer ihren Weg in die Realität fndet. Damit ist „Umsetzungsschwäche“
mitunter ausgesprochen funktional und bewahrt das Unternehmen vor Schlimmeren. Zweitens ist die Frage, wie man Alt und Neu am besten kombiniert, abhängig davon, wo die Hürden höchst individuell liegen. Franziska Müller-Tiberini würde vermutlich sagen: „Alt und Neu verbinden heißt kommunizieren, sich gemeinsam ausrichten, abstimmen, aber auch trennen“.

Alexander: Ich möchte vor allem Mut machen, sich dem Neuen zu widmen und sich den möglichen Fallstricken aktiv zu stellen. Und das heißt letztendlich, offen miteinander zu kommunizieren, sich bewusst und ehrlich zu hinterfragen, ein gemeinsames tragfähiges Bild vom morgen zu entwickeln. Für solch eine Art der Selbstvergewisserung kann ein systematischer Prozess zur Geschäftsmodell- oder Strategieentwicklung einen sinnvollen Rahmen bieten.

Die Autoren:
Patrick Großheim und Alexander Sonntag leiten gemeinsam das Projekt „Wettbewerbsfähig mit digitalen Geschäftsmodellen und Personalstrategien“ im RKW Kompetenzzentrum. Dort arbeiten sie mit kleinen und mittleren Unternehmen vor allem daran, stimmige Zukunftsbilder zu entwickeln – und diese auch umzusetzen. Kontakt: grossheim@rkw.de und sonntag@rkw.de