„Wimmelforschung“ – der Begriff bringt einen zunächst einmal zum Lächeln. Ist das ernstgemeint oder ironisch, ist das was für Kinder, die Wortschöpfung eines Comedians oder irgendein ganz neuer Hype? Irritieren, zum Nachdenken anregen, Bestehendes hinterfragen – das ist genau die Art von Reaktionen, die Maren Grees und Thomas Drescher, die Begründer der Wimmelforschung, mit ihrer ungewöhnlichen Projektarbeit erreichen wollen. Sie sind Künstler, aber auch Unternehmer. Ihr Ziel ist es, die Welt zu entkategorisieren – und dazu beizutragen, Unternehmen flexibler und innovationsstärker zu machen. Im Interview erläutern die beiden ihr „Kunst-Geschäftsmodell“ und die dahinterstehende Philosophie.

Redaktion: Was dürfen wir uns unter Wimmelforschung vorstellen? Wie ist die Idee dazu entstanden – und hat der Name etwas mit den Wimmelbüchern zu tun?
Wimmelforscher: Beginnen wir mit dem Namen. In der Tat ist er durch die Wimmelbücher inspiriert. Sie bieten unendlich viele Details, Geschichten und Deutungsmöglichkeiten – und es gibt nicht nur eine einzige Wahrheit. Wimmeln in Kombination mit Forschen ist auf den ersten Blick ein Paradoxon. Aber das ist unsere Arbeit in gewisser Weise auch: Wir bringen Kunst, Wirtschaft und Industrie in Interaktion. Die Idee zur Wimmelforschung entstand aus einer gewissen Unzufriedenheit heraus. Wir kommen beide aus dem Theaterbereich, sind Bühnen- und Kostümbildner. Im Theater und in Galerien erreichen wir in der Regel eher ein elitäres Publikum, der Diskurs findet ausschließlich in der Kunstwelt statt. Wir wollten eher ins richtige Leben und dort etwas bewirken. Etwas Gesellschaftsrelevantes schaffen, etwas, das die Menschen in ihrem Alltag berührt.

Ihr erstes großes Projekt realisieren Sie bei einem namhaften Unternehmen, im Forschungscampus der Robert Bosch GmbH in Renningen. Wie ist es dazu gekommen?
2013 sind wir im Rahmen des Art Coaching-Programms an der Akademie Schloss Solitude erstmals mit Bosch in Berührung gekommen. Unser Coach, Giovanni Cornetti, ein Entwicklungsingenieur bei Bosch, stellte den Kontakt zum Unternehmen her. Über einige Umwege wurden wir schließlich im Oktober 2014 zu einem Workshop nach Renningen eingeladen, bei dem wir dann auch Birgit Thoben, die Innovationsmanagerin kennenlernten. Bei dem Workshop ging es darum, eine Etage im neuen Forschungscampus in eine Umgebung zu verwandeln, die Innovationen begünstigt. So entstand Platform 12.

Wie sieht Ihre Arbeit nun konkret aus? Und was genau ist Platform 12?
Um es erst einmal ganz konkret zu beschreiben: Es ist eine Fläche im 12. Stock des Haupthauses auf dem Campusareal in Renningen. Eingerichtet sind die Räumlichkeiten mit Möbeln und Gegenständen hauptsächlich aus den 1920er bis 1950er Jahren, ergänzt durch fremdartige, erfundene Objekte – zum Beispiel ein „unentdeckter Planet“, der von der Decke hängt , oder das Black-Box-Regal, das aus so vielen Schubladen besteht, dass das Wiederfinden schwierig wird. Der Intergalaktische Couchdoktor regte ebenfalls schon viele Gespräche an – eine Couch unter einer lila Lampe, auf der man den Kopf angeblich frei von Gedanken bekommen kann. Daneben gibt es eine Bibliothek, einige Designermöbel und zwei Talk-Terminals, die auch als Workshop-Räume dienen. Auf Platform 12 sind alle Mitarbeiter aus Forschung und Entwicklung eingeladen, sich zu begegnen, sich auszutauschen, Synergien zu finden und sich inspirieren zu lassen. Aber das ist nur der äußere Rahmen. Das Besondere an unserem Konzept ist, dass jeweils für drei Monate ein „künstlerischer Agent“ (Künstler) anwesend ist. Er erhält das Wimmelforschungs-Stipendium, das wir gemeinsam mit der Akademie Schloss Solitude vergeben. Die künstlerischen Arbeiten der Stipendiaten können visuell gestaltet, aber auch konzeptuell, interaktiv oder performativ gedacht sein, den Raum verändern und/oder sich mit dem Arbeitsgeschehen der Mitarbeiter unmittelbar auseinandersetzen. Wir verstehen Platform 12 als eine ästhetische Setzung und kritische Reflektion, die weit über die physische Gestaltung hinausgeht: Sie stößt vor allem Prozesse an, die eine kritische Reflexion der vorgefundenen Realität beinhalten.

Was bewirken Sie mit Ihrem Input in dem Unternehmen? Was erhofft man sich von dem Projekt?
In Zahlen konkret messbar sind unsere Impulse nicht, aber es zeichnet sich dennoch ein gewisser Mehrwert ab. Platform 12 als Raum für Visionäre und die dahinterstehende Philosophie der Offenheit ist attraktiv für junge Talente. Der Raum und die Impulse der Künstler regen einen Perspektivenwechsel an und tragen dazu bei, eine Art Fehlerkultur zu etablieren. Damit unterstützen sie den Mut, andere Wege zu suchen und den Raum als Rückzugsort zu nutzen, wo neue Ideen entstehen können. Dazu gehört es auch, die Angst vor dem Nichtstun zu überwinden, das den Kopf frei macht für Neues.

Wie wurde dieser Raum bei den Mitarbeitern vorgestellt, und wie wird er angenommen?
Um Platform 12 innerhalb des Forschungscampus sichtbar zu machen, haben wir zwei Aktionswochen veranstaltet. In diesem Rahmen haben wir zum Beispiel das Nichts und Freiflächen im Unternehmen gesucht, eine Angelegenheit, die viele geradezu erschreckt hat. Nichts darf es nicht geben. Schon gar nicht in einem Unternehmen. Aber gerade darum geht es ja: sich ins Nichts vorzuwagen und Grenzen zu überschreiten. Dabei hilft die Platform 12: Dahin kann man gehen, wenn man auf der Suche ist nach etwas Neuem, das man noch nicht kennt, oder wie man es entwickeln kann. Man stößt hier an seine Grenzen, hat aber gleichzeitig die Möglichkeit, mit ihnen umzugehen, sie zu überschreiten und über sich hinauszuwachsen.

Kommen wir zum Abschluss nochmals auf die Wimmelforschung zurück: Wie sieht die Zukunft aus? Träumen Sie davon, eine richtige Wissenschaft daraus zu machen?
Nein, wir verstehen uns mehr als Künstler, nicht als Wissenschaftler. Aus dem Projekt mit Bosch lernen wir sehr viel und hoffen natürlich, auch an anderen Stellen zukunftsbildende Prozesse anstoßen und Innovationskulturen mit einer ganzheitlicheren Perspektive etablieren zu können. Unsere künstlerische Vorgehensweise ist klar: etablierte Strukturen hinterfragen und stets neue Fragen aufwerfen, durch Irritation neue Perspektiven eröffnen. Das ist kein Garant für mehr oder bessere Ideen, aber für eine Änderung der Denkweise, die noch unbekannte Möglichkeiten eröffnet.

Dieser Beitrag ist in gekürzter Form dem aktuellen RKW Magazin 1/2017 entnommen. Gern können Sie weitere Beiträge in der PDF lesen, oder bestellen Sie sich gleich eine Printausgabe:

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